Ein Spiel – verschiedene Sichtweisen: Vor und nach der Partie des 1. FC Heidenheim beim 1. FC Union Berlin am vergangenen Samstag kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Ultras des FCH, bei denen es 15 Festnahmen und auch Verletzte auf beiden Seiten gab.
Die Sichtweise der Polizei Berlin
In einer Meldung zu den Ereignissen rund um das betreffende Spiel am Samstag, 10. Mai, spricht die Polizei Berlin von „Fußballgewalttätern“. Bei den Einsätzen vor und nach dem FCH-Spiel in Berlin seien neun Beamte und eine Beamtin verletzt worden. Etwa gegen 14 Uhr, eineinhalb Stunden vor Spielbeginn, hätten Einsatzkräfte in der Nähe des Stadions einen Mann festgenommen. Dieser habe als „Tatverdächtiger einer Sachbeschädigung“ in einer S-Bahn, mit der die FCH-Fans zum Stadion gefahren sind, gegolten. Bei der Sachbeschädigung handle es sich um das Anbringen von Stickern.
Daraufhin hätten sich „zahlreiche mitgereiste Gäste zu einer gewaltentschlossenen Menge“ vereint und seien gegen die Einsatzkräfte vorgegangen. Aus der, laut Polizei, „gewalttätigen Personenmenge“ seien Plastikdosen und -flaschen auf die Polizeikräfte geworfen worden. Darüber hinaus sei es zu körperlichen Angriffen auf Beamte gekommen.
Die haben auf Attacke gestellt. Dann sieht auch bei uns die Welt anders aus.
Ein Sprecher der Polizei Berlin über FCH-Ultras
Ein Polizist sei von mehreren Tatverdächtigen „in die Menge“ hineingezogen worden. Jetzt habe die Polizei „mehrfach den Mehrzweckstock [...] eingesetzt, um den in Bedrängnis geratenen Kollegen aus der Gefahrensituation schnell wieder herauszubekommen“. Die Fans seien schließlich ins Stadion geleitet worden.
Der Polizei sei gelungen, „mindestens vier der am intensivsten agierenden Tatverdächtigen auf den polizeilichen Beweissicherungs- und Bodycam-Aufnahmen sofort zu identifizieren“. Ein bisher nicht identifizierter Tatverdächtiger sei nach Spielende gegen 17.50 Uhr auf einem Bus-Parkplatz in der Nähe des Stadions festgenommen worden. Die Polizei spricht davon, dass deswegen zahlreiche Insassen aus den bereits abfahrbereiten Bussen der Gästefans wieder ausgestiegen seien, „um in gewaltbetonter Art und Weise die Festnahmeeinheit erst zu beleidigen und dann anzugreifen“. Die Beamten hätten Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt. „Zahlreiche“ Einsatzkräfte seien hier durch Tritte und Schläge von teils noch unbekannten Tatverdächtigen verletzt worden.
Polizei spricht von 18 Ermittlungsverfahren
Die Polizei Berlin spricht von „ausgesprochen gewaltorientierten Aktionen eines kleinen Teils der Gast-Fanszene“. Insgesamt seien 18 Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung, tätlichen Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, eingeleitet worden. 15 Personen seien festgenommen und nach Abschluss „der kriminalpolizeilichen Maßnahmen“ entlassen worden.
Die Polizei Berlin reagierte auch auf die erste Stellungnahme des FCH zu den Vorfällen rund um das Spiel. In dieser hatte der Bundesligist am Sonntag, 11. Mai, die Polizei in Berlin kritisiert. Diese Stellungnahme sei „einseitig und sachlich inhaltlich falsch", erklärte der Leiter der Pressestelle der Berliner Polizei, Florian Nath, gegenüber dem „SWR“. Aus Sicht der Berliner Polizei seien die Heidenheimer Ultras „wegen Petitessen durchgedreht“ und hätten Straftaten begangen, indem sie Polizisten angegriffen hätten. Die öffentliche Stellungnahme des FCH habe den Polizei-Sprecher überrascht. Aus seiner Sicht sei es besser gewesen, wenn die Fan- und Sicherheitsbeauftragten des Vereins zur Polizei Kontakt aufgenommen und sich erkundigt hätten, was genau passiert ist.
Anfrage der Heidenheimer Zeitung an die Polizei Berlin
Vom Polizeieinsatz gibt es Handyaufnahmen von Fans, die wohl nach dem Spiel gemacht worden sind. Der Heidenheimer Zeitung liegt ein Videoclip vor, in dem zu sehen ist, wie ein Mann in Seitenlage am Boden liegend seine Hände schützend vor sein Gesicht hält. Ein Polizist, über dem Mann gebeugt, fügt diesem Faustschläge auf den Körper und ins Gesicht zu, indem er eine Hand des Mannes versucht mehrmals wegzuziehen und gleichzeitig zuschlägt. Die Polizei Berlin wollte sich auf HZ-Anfrage zu dieser „Hören-Sagen-Sehen-Videosequenz“ ohne eine eigene Betrachtungsmöglichkeit nicht äußern. Der Aufforderung, das Video der Polizei zuzuschicken, kam die HZ-Redaktion nicht nach.
Update 15. Mai, 8.55 Uhr:
Auf Anfrage der Heidenheimer Zeitung beziffert die Polizei Berlin die Anzahl der verletzten Beamten auf zwölf. Bei den Verletzungen handele es sich überwiegend um Platz- und Schürfwunden sowie Kreislaufprobleme.
Den bisherigen Erkenntnissen der Polizei Berlin zufolge seien „vier Personen der Gastfanszene sowie eine Person der Heimfanszene, die sich im Rahmen der Angriffe auf Polizeidienstkräfte mit der Gastfanszene solidarisiert haben soll“, verletzt worden. Zu den Verletzungen gehören, laut Polizei, „typische Verletzungsbilder und -muster nach Anwendungssequenzen des unmittelbaren Zwangs vor“ wie blutende Lippe, Nasenbluten, Druckschmerz im Kopfbereich, Verletzungen im Gesichtsbereich, Schmerzen am Knie, Augenreizungen nach Einsatz des „Reizstoffsprühgerätes“.
Auf die HZ-Anfrage: „Haben Fans des 1. FC Heidenheim rund um die Einsätze Anzeige(n) gegen Einsatzkräfte gestellt?“, antwortet die Polizei Berlin wie folgt: „Es liegen zwei Strafanzeigen gegen Einsatzkräfte der Polizei Berlin vor. Ein männlicher Fußballfan zeigte an, dass er von einer unbekannten Polizeidienstkraft mit der Faust grundlos ins Gesicht geschlagen worden sei, nachdem er einem zu Boden Gestürzten aufhalf. Das Ermittlungsverfahren wird vom zuständigen Fachkommissariat beim Landeskriminalamt wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt geführt. Ein weiterer männlicher Fußballfan zeigte an, dass er als Teilnehmer des Fanmarsches auf dem Weg ins Fußballstadion war, als es zu Auseinandersetzungen zwischen Fußballanhängern des 1. FC Heidenheim und Polizeikräften gekommen sei. Eine Polizeibeamtin habe ohne erkennbaren Grund mit dem Schlagstock zwei Schläge gegen seine Hosentasche ausgeführt. Hierdurch sei sein Mobiltelefon beschädigt worden und anschließend nicht mehr funktionstüchtig gewesen. Das Ermittlungsverfahren hierzu wird wegen des Verdachts der Sachbeschädigung geführt. Die Erweiterung um den Tatvorwurf der Körperverletzung im Amt ist Gegenstand der Ermittlungen des Dezernats für Polizeidelikte beim Landeskriminalamt Berlin.“
Als Information erklärt die Polizei Berlin: „Alle eingesetzten uniformierten Beamtinnen und Beamten der Polizei Berlin verfügen über eine taktische Rückenkennzeichnung, die eine individuelle Nummer beinhaltet, so dass eine Zuordnung etwaiger Tatverdächtiger zu gestellten Strafanzeigen jederzeit möglich ist.“
Update 15. Mai, Ende
Die Sichtweise der Ultras
In der Regel sprechen Ultras nicht mit „der Presse“. Auch in diesem Fall ist dies so. Nach Rücksprache mit Vertretern der Ultraszene des FCH, schildert aber Robert Henne seine Eindrücke. Er betont, dass er in dieser Szene sehr gut vernetzt sei. Er sei seit vielen Jahren FCH-Fan, „Allesfahrer“, Mitglied des Fanbeirats des FCH, gehöre der organisierten Fanszene an (Fanclub „Fußballmania Heidenheim“) und stehe in einem engen Kontakt zu „den Ultras“.
Die erste Auseinandersetzung mit der Polizei vor dem Spiel sei „eine Überraschung für alle“ gewesen, sagt Henne. Man könne davon ausgehen, dass die Polizei Berlin bewusst den engen Zugang vor dem Stadion dafür ausgewählt habe, so seine Einschätzung. Nicht nachvollziehbar sei, dass die Polizei weder mit dem Fanprojekt, der Fanbetreuung noch mit Verantwortlichen des FCH (Vorstandsmitglied Petra Saretz war beim Fanmarsch dabei) Kontakt aufgenommen habe. „Es gab seitens der Polizei keine Kommunikation“, bedauert er.
Der erste von der Polizei festgesetzte Fan habe einen Rucksack dabeigehabt, in dem Material der Ultras gewesen sei. Dazu zählen zum Beispiel Zaunfahnen. Henne wählt den Vergleich mit dem „Heiligen Gral“ und drückt es so aus: „Ausgerechnet den mit dem Rucksack hat es getroffen.“ Der Inhalt dieses Rucksacks sei enorm wichtig für Ultras, die aber nicht sofort „reagiert“ hätten. Ein Teil der Ultraszene habe den Eindruck gehabt, seitens der Polizei sei diese Situation „gewollt“ gewesen. „Dann gab es irgendwas“, sagt Henne, kann aber nicht genau sagen, was „die nächste Eskalationsstufe“ ausgelöst habe.
Warum entscheide ich mich als Polizei für dieses Szenario wegen eines Stickers, der als Sachbeschädigung gilt?
Robert Henne, Fanbeiratsmitglied des FCH und Kenner der Ultraszene
Aus Sicht der Ultras sei es klar, dass die Mitglieder füreinander einstehen, sagt Robert Henne. In der Folge habe es ein Halten und Schubsen gegeben. Henne beschreibt, dass es aufgrund der Bauzäune „wie in einem Käfig“ zugegangen sei. Er sei froh, dass keine Panik ausgebrochen sei und stellt die Frage: „Warum reagiert die Polizei so? Warum entscheidet sie sich für dieses Szenario wegen eines Stickers?“ Henne versteht auch nicht, warum es nach dem Spiel „noch einmal losging“. Die Polizei sei in voller Montur aufgelaufen, sei „komplett aufgesattelt“ gewesen. „Es wusste niemand, worum es geht.“ Den FCH-Ultras sei, laut Robert Henne, klar geworden: „Wir müssen hier weg. Wir sind hier nicht sicher.“
Henne betont, dass sich einige Fans des 1. FC Union Berlin mit den Heidenheimern solidarisiert hätten. „Unioner stellten sich Polizisten in den Weg, als die einen Heidenheimer Anhänger abführen wollten“, erzählt Henne und sagt: „Von der Wucht des Polizeieinsatzes waren alle überrascht.“
Die Sichtweise des Fanprojekts Heidenheim
In einer Stellungnahme des Fanprojekts Heidenheim heißt es, dass deren Mitarbeiter „tief besorgt über die Vorfälle“ seien. Der erste von der Polizei festgesetzte FCH-Fan habe die Ultra-Utensilien dabeigehabt: „Gemeinsam mit der Fanbetreuung des FCH, wartenden FCH-Fans und den szenekundigen Beamten versuchten wir, vermittelnd auf die Polizei einzuwirken. Ziel war es, zu verdeutlichen, dass die Fans den Bereich erst verlassen würden, wenn die Materialtasche zurückgegeben wird.“ Weiter heißt es: „Nach einiger Zeit kam es durch die eingesetzten Berliner Polizeikräfte zu einem plötzlichen und unverhältnismäßigen Gewalteinsatz gegen mehrere wartende Fans. Die Situation wirkte äußerst chaotisch und war für viele Beteiligte beängstigend.“

Mitarbeiter des Fanprojekts hätten zwei der festgenommenen Personen auf die Stadionwache begleitet, hätten aber nicht bei ihnen bleiben dürfen: „Nachdem festgestellt wurde, dass wir dem Fanprojekt angehören, wurden wir unter fadenscheinigen Gründen gebeten, die Wache zu verlassen“, heißt es in der Stellungnahme. Und weiter: „Wir sind der festen Überzeugung, dass eine bessere und frühzeitigere Kommunikation im Netzwerk zwischen Polizei, Fanprojekt, Fanbetreuung und szenekundigen Beamten wesentlich dazu beigetragen hätte, die Situation zu entschärfen. Solch drastische Maßnahmen, wie sie in diesem Fall ergriffen wurden, sollten immer nur als letztes Mittel in Betracht gezogen werden – und erst dann, wenn alle deeskalierenden und vermittelnden Ansätze gescheitert sind.“
Sowohl während des Kurvengesprächs vor dem Spiel als auch in der Halbzeitbesprechung habe die verantwortliche Polizeiführerin auf Nachfrage versichert, dass keine weiteren polizeilichen Maßnahmen in Bezug auf die Vorfälle vor dem Spiel zu erwarten seien. Diese Aussage stehe jedoch in einem klaren Widerspruch zu den dokumentierten Vorgängen nach der Partie.
Die Schilderungen der Polizei über massive Gewalt durch Fans und die daraus resultierenden Maßnahmen decken sich nicht mit den Beobachtungen unserer Mitarbeitenden und zahlreicher unbeteiligter Fans.
Fanprojekt Heidenheim
Eine nach Spielende festgenommene Person sei, „obwohl sie am Boden lag und keinen Widerstand leistete“, mehrfach geschlagen worden – „sowohl in die Körperseite als auch auf den Kopf“. Zudem kritisiert das Fanprojekt: „Die Schilderungen der Polizei über massive Gewalt durch Fans und die daraus resultierenden Maßnahmen decken sich nicht mit den Beobachtungen unserer Mitarbeitenden und zahlreicher unbeteiligter Fans. Wir stellen nicht infrage, dass es zu angespannten Momenten kam – jedoch war die Mehrzahl der Heidenheimer Fans kooperativ und friedlich unterwegs.“ Die pauschale Darstellung einer „gewaltbereiten Menge“ sei nicht gerechtfertigt.
Nach Angaben des Fanprojekts mussten rund 20 Fans am Spieltag sowie im Nachgang medizinisch behandelt werden – teils aufgrund physischer Verletzungen, teils wegen psychischer Belastung.
Die Sichtweise des 1. FC Heidenheim
Auch mit einigen Tagen Abstand ist bei Petra Saretz die Empörung über das Vorgehen der Berliner Polizei noch groß. „Ich bin seit mehr als 20 Jahren bei Fußballspielen unseres Vereins, aber so etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt das Vorstandsmitglied. In einer Stellungnahme des Vereins hatte die Vereinsverantwortliche beklagt, dass die Berliner Polizei gegenüber Fans „unverhältnismäßig Gewalt“ angewendet habe. „Der Auslöser war der Aufkleber, und das stand für mich in keinem Verhältnis“, bekräftigt sie die Vorwürfe gegenüber der HZ. Dass es vor der Partie zu dem Polizeieinsatz kam, sei für Saretz überraschend gekommen: „Bis wir am Stadion angekommen sind, war gar nichts. Es war auch nicht vorhersehbar, dass etwas passiert.“

Der Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray hätte laut Petra Saretz mit einer anderen Vorgehensweise verhindert werden können. Die Verfolgung des Beschuldigten wäre mithilfe einer Identifikation durch die szenekundigen Beamten der Polizei möglich gewesen.
Ich bin seit mehr als 20 Jahren bei Fußballspielen des FCH und zuvor des HSB, so etwas habe ich noch nie erlebt.
FCH-Vorstandsmitglied Petra Saretz
Des Weiteren kritisiert auch Saretz die „ungenügende Kommunikation“ der Polizei mit den Heidenheimer Verantwortlichen. Insgesamt hätte sich der FCH eine andere Vorgehensweise gewünscht, um die Situationen rund um die Partie zu deeskalieren. „Es wurde weniger kommuniziert und mehr agiert“, bemängelt Fabian Strauß, Fanbeauftragter des FCH.
Saretz und Strauß hätten als Teil eines Teams von Vereinsvertretern die Auswärtsfans bei ihrem Marsch vom Treffpunkt im Berliner Tiergarten bis zum Stadion begleitet. Als es zu dem Aufeinandertreffen mit der Polizei vor und nach der Partie kam, seien beide in unmittelbarer Nähe gewesen. „Ich habe selbst Pfefferspray abbekommen“, so Strauß.
FCH-Vorstandsmitglied Saretz widerspricht den Schilderungen in der Pressemeldung der Berliner Polizei: „In dem Bericht steht, der Verein wäre nicht gesprächsbereit gewesen. Wir standen mit drei Personen in FCH-Kleidung da, ich habe mit der Polizeiführerin und dem Einsatzleiter beim Fanmarsch gesprochen.“ Dass es keine Ansprechpartner gegeben habe, sei nicht richtig.
„Wir hatten in der Halbzeit nachgefragt, ob unsere Fans sicher zum Bus gelangen können, und haben die Antwort bekommen, dass nichts Weiteres geplant ist“, sagt sie. Mit Unverständnis hätten die FCH-Verantwortlichen auf den Umstand reagiert, dass es auf den Parkplätzen nach Spielende zu einem weiteren Eingreifen der Polizei gekommen sei.
Zudem bestätigt Saretz, dass es unter den Fans mehrere Verletzte gab, die vor Ort medizinisch versorgt werden mussten. „Es gab nach unseren Informationen Schürfwunden, schwere Prellungen und auch eine Gehirnerschütterung, aber es gab auch Menschen, die einfach Panikattacken hatten und teilweise zusammengebrochen sind“, erzählt sie. Fabian Strauß berichtet, dass mehrere Fans vor Ort Strafanzeige gegen Polizisten gestellt hätten.