Interview mit Britta Fünfstück

Warum Hartmann trotz rückläufiger Zahlen hohe Summen investiert

Die Paul Hartmann AG Heidenheim hat ihre Bilanz für 2022 vorgelegt. Die Vorstandsvorsitzende Britta Fünfstück erläutert im Interview die Entwicklungen des vergangenen Jahres und Hartmanns Strategie für die Zukunft.

Warum Hartmann trotz rückläufiger Zahlen hohe Summen investiert

Britta Fünfstück gießt ein Glas Wasser halb voll. Die Vorstandsvorsitzende der Paul Hartmann AG ist aber nicht durstig, sondern will zeigen, was ein neues, sehr stark absorbierendes Produkt für schlecht heilende Wunden kann, das ihr Unternehmen entwickelt hat. Es heißt Zetuvit Plus Silicon Border. Zuerst klebt sie es der Journalistin auf die Hand, um zu zeigen, dass die silikonhaltige Oberfläche bewirkt, dass das Wundpflaster schmerzfrei abgezogen und wieder aufgeklebt werden kann. Dann legt sie die Wundauflage mit der Auflagefläche nach oben auf den Tisch – und stellt das Wasserglas umgekehrt darauf. Das Wasser läuft nicht aus, sondern wird aufgesaugt, das Wundpflaster wird immer dicker und verwandelt die Flüssigkeit in seinem Inneren in eine gelartige Masse. Britta Fünfstück strahlt. Sie schafft es, echte Begeisterung für ihr Unternehmen und dessen Entwicklungen zu vermitteln – auch wenn die Geschäftszahlen, die die Firma präsentiert, alles andere als rosig sind.

Der organische Umsatz von Hartmann ist 2022 um 0,8 Prozent gesunken, der Gewinn vor allen Abzügen (EBITDA) massiv zurückgegangen. Eigentlich ist aber der Gesundheitsmarkt doch ein Markt der Zukunft, oder?

Britta Fünfstück: Das stimmt. Der Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung steigt, deshalb wächst auch der Gesundheitsmarkt. Jedoch ist die Zahl der Operationen auf das Niveau des Jahres 2013 zurückgegangen. Das ist immens für ein Unternehmen wie unseres. Auch der Verbrauch von Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern liegt unter dem Vor-Corona-Niveau, zudem haben viele Kunden hohe Lagerbestände.

Also hat sich der für Hartmann positive Corona-Sondereffekt mittlerweile ins Gegenteil verkehrt?

Ja, das kann man so sagen.

Haben Sie die Maskenproduktion komplett eingestellt?

Wir haben die Produktion eingemottet, das heißt, die Produktionsanlage ist da. Sollte eine Notsituation eintreten, können wir innerhalb kürzester Zeit die Produktion wieder hochfahren. Leider bestellen Krankenhäuser aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Situation nach wie vor Masken aus China, auch wenn die aus der mittlerweile aufgebauten deutschen Produktion nur marginal teurer wären.

Der Trend in der Medizin geht weg von stationären Aufenthalten hin zu ambulanten Operationen. Dabei braucht man aber doch dasselbe Material wie bei OPs im Krankenhaus, oder?

Ja, das OP-Material bleibt gleich, aber der Patient geht nach dem Eingriff nach Hause und wird nicht im Krankenhaus versorgt. Deshalb braucht man beispielsweise weniger Desinfektionsmittel für die Hände, weil das Personal viel weniger Patientenkontakte hat.

Von sehr stark gestiegenen Energie- und Materialkosten und unterbrochenen Lieferketten waren fast alle Unternehmen 2022 betroffen. Was hat Hartmann hier am stärksten belastet?

Die Kosten – im Wesentlichen Material-, Rohstoff- und Frachtkosten – sind explosionsartig gestiegen. Wir hatten über 100 Millionen Euro an Kostensteigerungen, das ist für uns als Unternehmen immens. Wir konnten das nicht alles durch Preiserhöhungen weitergeben, wie das beispielsweise die Chemieindustrie macht. Der Gesundheitsmarkt ist gedeckelt, ein Teil der Kosten bleibt einfach bei uns hängen.

Trotzdem hat Hartmann massiv investiert, mit rund 180 Millionen Euro sind die Investitionskosten mehr als doppelt so hoch wie 2017. Auch 2023 wollen Sie die Investitionen auf extrem hohem Niveau halten. Welche Strategie steckt dahinter?

Es ist eigentlich eine Besonderheit: Ein Unternehmen, das in einer schwierigen Phase ist, stoppt nicht alle Investitionen, sondern macht genau an den Zukunftsthemen weiter. Das hängt damit zusammen, dass das Unternehmen aufgrund der Anteilseignerstruktur langfristig orientiert ist. Wir sind vehement daran interessiert, das Unternehmen wirklich zu stärken und nicht nur kosmetische Verbesserungen zu machen. Die Strategie umfasst vier große Ziele: mehr Innovationen, unsere Kostenposition signifikant zu verbessern, neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und deutlich stärker zu wachsen im ambulanten Bereich. Das Transformationsprogramm setzt das über Einzelmaßnahmen um, die wir auch genau nachverfolgen. 2022 haben diese Maßnahmen 100 Millionen Euro zum Ergebnis des Unternehmens zusätzlich beigetragen. Hätten wir das 2019 nicht gestartet, würde unser Ergebnis sehr viel schlechter aussehen, es hilft uns immens, um die dominierenden Effekte aus den Krisen abzumildern – auch wenn man ganz deutlich sagen muss, dass die Profitabilität deutlich zurückgegangen ist.

Können Sie ein Beispiel für solche Maßnahmen aus dem Transformationsprogramm nennen?

Wir haben beispielsweise in Hamburg im Werk Bode signifikant in schnellere Abfüllanlagen für Desinfektionsmittel investiert und verschiedene Abläufe optimiert. Das hatte zur Folge, dass die Produktkosten gesunken sind. Ein anderes Beispiel: Wir haben in Tschechien einzelne Produktionsgebäude durch ein neues Konzept miteinander verbunden und einiges automatisiert, so dass auch hier Stückkosten reduziert wurden. Aber wir überlegen beispielsweise auch beim Design von Produkten, wie man die Verpackung von vornherein mit weniger Material gestaltet, um dabei Kosten zu sparen. Oder wir ändern das Design so, dass wir Lizenzen und damit verbundene Zahlungen vermeiden.

Gibt es auch Investitionen im Landkreis Heidenheim?

Wir haben ja bereits im letzten Jahr bekanntgegeben, dass ins Werk in Herbrechtingen 40 Millionen Euro investiert werden. Jetzt kommen noch einmal 20 Millionen Euro hinzu, die wir in eine weitere hochmoderne neue Maschine investieren werden.

20 Millionen Euro Investitionen fließen in das neue Werk in Polen. Wie weit ist der Umzug der Wundversorgungs-Produktion von Heidenheim nach Czestochowa fortgeschritten?

Der Produktionsstandort steht, die erste große Maschine ist auch aufgebaut und wird ab Sommer laufen. Wenn sie der TÜV abgenommen hat, können wir dort produzieren. Eine Maschine aus Heidenheim wurde bereits nach Tschechien gebracht, die restlichen Maschinen werden nach und nach ab Herbst nach Polen transferiert. Wir haben die Lagerbestände für den Umzug hochgefahren und die Produktion in Heidenheim wird dann Stück für Stück heruntergefahren. Die Mitarbeitenden sind über den Zeitplan informiert. Wir rechnen damit, dass im ersten Quartal 2024 die Produktion in Heidenheim eingestellt wird

Was passiert mit dem Gebäude am Standort Heidenheim, in dem derzeit noch die Produktion läuft?

Dafür gibt es noch keine Pläne.

Welche Maßnahmen mussten Sie 2022 ergreifen aufgrund des Kriegs in der Ukraine?

Wir haben beispielsweise signifikant investiert, um uns von russischem Gas unabhängig zu machen, etwa in LPG-Tanks. Zudem haben wir die Warenbestände hochgefahren, weil die Lieferketten massiv beeinträchtigt waren. Wir haben ein geschäftliches Interesse, aber wir haben auch ein hohes moralisches Interesse unseren Kunden gegenüber, bei denen kritische Operationen gegebenenfalls nicht stattfinden können, wenn steriles Material fehlt. Wenngleich unsere Eigenkapitalquote relativ hoch ist, haben wir Liquidität gesichert und Kapitallinien gezeichnet, die es uns erlauben würden, relativ kurzfristig auf Bankkredite zurückzugreifen, sollte das notwendig sein. Wir haben uns also sehr gut vorbereitet, um mit der Krisensituation umgehen zu können. Zudem haben wir auch versucht, den Menschen in der Ukraine durch Spenden zu helfen, das haben wir übrigens auch beim Erdbeben in der Türkei getan.

Nachhaltigkeit ist ein großes Thema für alle Unternehmen. Was hat sich Hartmann auf diesem Gebiet vorgenommen?

Wir wollen bis 2030 unseren CO2-Ausstoß halbieren. Aber wir wollen auch Mikroplastik vermeiden, mit biologisch abbaubaren Materialien arbeiten und generell den Plastikverbrauch signifikant reduzieren. Bei den Flächendesinfektionstüchern beispielsweise wollen wir den Materialeinsatz von Plastik schrittweise reduzieren, derzeit verarbeiten wir jährlich 450 Tonnen. Bis 2025 soll das Produkt plastikfrei sein.

Paul Hartmann ist Hauptsponsor des 1. FC Heidenheim. Fiebern Sie auch dem Aufstieg in die erste Liga entgegen?

Ja, natürlich. Wir wünschen dem FCH alles Gute für den Rest der Saison. Wir wollen unser Sponsoring auf jeden Fall fortsetzen, Hartmann sieht sich als loyaler Partner des Vereins – und übrigens auch der anderen Vereine und Institutionen in Heidenheim, die von uns unterstützt werden.

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