Es war 1964. Rainer Schulz, damals sechs Jahre alt, heute mit grauem Haar, runder Brille, redegewandt, wurde eingeschult. Erste Klasse, Schultüte, eine Mischung aus Aufregung und Freude. Damals startete Rainer Schulz an einer sogenannten Volksschule, eine Schulform, die seit 1909 bestand. Acht Jahre konnte man sie besuchen, häufig wurde jahrgangsgemischt unterrichtet, in großen Klassen, die sich weit jenseits der heutigen Klassenteiler bewegten. Als zweite Schulart gab es das Gymnasium. Der Übertritt war jedoch nur einem kleinen, auserlesenen Kreis möglich.
1965 kam dann ein Wandel, den man erst im Rückblick zu werten vermag. Rainer Schulz wechselte ziemlich unbemerkt und unaufgeregt in eine neue Schulform. Fortan besuchte er die neu eingerichtete Grundschule – und es sollten sich ihm neue Bildungswege eröffnen. Denn 1965 fand ein bildungspolitischer Paradigmenwechsel statt, ein neues Schulverwaltungsgesetz trat in Kraft. Das bis heute bestehende dreigliedrige Schulsystem wurde flächendeckend eingeführt. Neben Hauptschule und Gymnasium tat sich ein mittlerer Bildungsweg auf, die Realschulen waren geboren.
Rainer Schulz hat zur Schulreform recherchiert
Rainer Schulz ist studierter Pädagoge, er war Lehrer und lange Zeit Schulleiter der Sontheimer Grund- und Realschule. Jetzt im Ruhestand lässt ihn die Schule noch immer nicht los. Er hat gemeinsam mit ehemaligen Kollegen zur Schulreform von 1965 recherchiert, Archive, Gemeindeblätter und Konferenzprotokolle studiert und erinnert an eine wegweisende Veränderung. Im Fokus hatte er dabei immer die Situation in Sontheim. Doch das Geflecht zieht sich über das gesamte Kreisgebiet.

Rückblick. Mauerbau, Kuba-Krise, 68er-Bewegung: Rainer Schulz erinnert sich an bewegte und ereignisreiche 60er-Jahre. Inmitten vieler weltpolitischer Bewegungen tat sich rund um die Bildung eine große Diskussion auf. „Deutschland war im internationalen Vergleich gleichauf mit Uganda“, sagt Rainer Schulz. Im Wettlauf mit einem erstarkenden Osten hatte man Angst, abgehängt zu werden. Von einer „Bildungskatastrophe“ war die Rede, von einem „Bildungsnotstand“.
Deshalb sollte das Bildungssystem grundlegend verändert werden. Die Qualität sollte sich verbessern. Man wollte höhere Bildungsabschlüsse auch für Mädchen erzielen. Denn das Gymnasium war ihnen meistens vorenthalten, zumal es ohnehin als „Schule der besseren Leute“ galt. Die neu eingerichtete Realschule sollte eine Lücke schließen.
Damalige Herausforderungen haben Parallelen zu heute
„Es gab ähnliche Herausforderungen wie heute, einen hohen Bedarf an Facharbeitern, internationalen Wettbewerb, eine Wirtschaft im Wandel“, sagt Rainer Schulz. Und in der ganzen Debatte flammte auch mehr und mehr die Diskussion um die sogenannte Bildungsgerechtigkeit auf.
Eine Realschule erlaubten die Eltern eher als ein Gymnasium.
Rainer Schulz, ehemaliger Sontheimer Schulleiter
Vor allem im Hinblick auf den ländlichen Raum sah man Handlungsbedarf. Im Auge hatte man das „bildungsbenachteiligte katholische Arbeitermädchen vom Land“. Von Rainer Schulz recherchierte Zahlen spiegeln die damalige Realität: Ein Großteil der Mädchen, die 1965 die Volksschule verließen, machte eine hauswirtschaftsnahe Ausbildung oder ging ohne Ausbildung in ein künftiges Leben als Hausfrau und Mutter.
Die Einführung einer Realschule konnte und sollte neue Möglichkeiten schaffen. Rainer Schulz: „Eine Realschule erlaubten die Eltern eher als ein Gymnasium.“ In der ersten Eingangsklasse der 1965 auch in Sontheim eingerichteten Realschule, so zeigen die Recherchen von Rainer Schulz, waren dann direkt doppelt so viele Mädchen wie Jungen. Der Trend sollte sich fortsetzen.
Gymnasien waren ein Ort für „die besseren Leute“
Die Gymnasien blieben Ort der wenigen. Die Übertrittzahlen waren im Zehn-Prozent-Bereich. Nicht zu vergleichen mit heute, wo fast jedes zweite Kind auf ein Gymnasium wechselt. Ohnehin: Damals waren die Wege mitunter weit. Es gab in Heidenheim das Hellenstein-Gymnasium, das Schiller-Gymnasium, das bis 1965 ein reines Mädchengymnasium war. Ende der 1950er-Jahre kam das Giengener Margarete-Steiff-Gymnasium dazu.
Das war ein wichtiger Schritt in Sachen Emanzipation.
Rainer Schulz
Rainer Schulz nimmt im Rückblick Stellung: „Es war grandios, dass in den Mittelschulen leistungsstarke Schülerinnen da waren, die die anderen auch mitzogen“, sagt er. Und: „Das war ein wichtiger Schritt in Sachen Emanzipation.“ Wohl wissend, dass die traditionelle Rollenzuweisung noch immer den Alltag dominierte.
Für Rainer Schulz hat das dreigliedrige System bis heute seine Berechtigung. Die Einführung sei ein „Meilenstein für die Bildung“ gewesen. Er sagt: „Das war bildungspolitisch absolut der richtige Schritt.“ Und auch für ihn selbst war es ein Glücksfall: „Meine Eltern hätten mich niemals am Gymnasium angemeldet. Für sie war es die Schule der ‚besseren‘ Leute. Eine furchtbare Formulierung. So wurde die Realschule mein Sprungbrett ins Leben.“