Es ist ein Donnerstag, 17 Uhr. Das Wartezimmer ist bereits leer. Die letzten Patienten sitzen in den Sprechzimmern. Eine Tür geht auf, eine andere zu. Das Telefon klingelt, der Drucker rattert und spuckt noch letzte Dokumente aus. Überweisungen, Laborwerte, Rezepte. Alltag. Im Wartezimmer liegen Illustrierte und Infobroschüren. Und dieser arztpraxistypische Geruchsmix aus Desinfektions- und Reinigungsmitteln liegt in der Luft.
Heute war ein ruhiger Tag in der Hausarztpraxis Nikolova in Syrgenstein. Infekte haben Nebensaison. Die Grippe hält aktuell noch die Füße still. Arbeit gibt es dennoch genug. Stanka Nikolova hat heute unter anderem einen Katzenbiss versorgt, Diabetiker-Therapien besprochen und angepasst, Hausbesuche im Pflegeheim absolviert. Impfen, Blutdruckmessen, nachdenken: Die 43-Jährige ist Allgemeinmedizinerin. Sie ist die einzige Hausärztin in den Bachtal-Gemeinden. Eine sogenannte Landärztin.
Nikolovas Schritt aufs Land war ein ganz bewusster
Stanka Nikolova liebt, was sie tut. Sie kommt jeden Tag gerne in ihre Praxis, denn sie hat das Leben auf dem Land ganz bewusst gewählt. „Ich habe immer in kleineren Städten und Gemeinden gearbeitet, ein Leben in der Großstadt kann ich mir beruflich und privat gar nicht vorstellen“, sagt sie.
Vor drei Jahren kam sie nach Syrgenstein, übernahm dort die Praxis ihrer verstorbenen Vorgängerin. „Hier im Bachtal waren kurz hintereinander zwei Ärzte verstorben und die Bürger waren ganz verzweifelt. Es gab zuletzt nur einen pensionierten Aushilfsarzt, der zeitweise vor Ort war“, erzählt die Medizinerin. Im Austausch mit der Kassenärztlichen Vereinigung und der Gemeinde kam es zur Praxisbesichtigung, zum Ausloten und schließlich zur Zusage. Jackpot für Nikolova – denn schon als Kind wollte sie Ärztin werden. Am besten auf dem Land.
Hausärzte sind nicht selten das Tor zur Genesung
Dabei stehen Hausärzte oft im Schatten der großen Medizin. Herz- und Neurochirurgen etwa genießen ein anderes Ansehen. Und zur Charité-Karriere ist es weit aus dem ländlichen Raum. Doch Fakt ist auch: Hausärzte sind oft das Zünglein an der Waage, das Tor zur Genesung. Wenn sie den richtigen Riecher haben, den richtigen Weg einschlagen, kann das entscheidend für den Patienten sein. Man muss die ganze Bandbreite medizinischer Möglichkeiten auf dem Schirm haben. Nicht zu vergessen ist die emotionale Bindung zu den Patienten, die Vertrautheit, das Wissen um die individuelle Krankheitsgeschichte. Alles Joker auf der Suche nach der richtigen Diagnose.
„Ich bin jung und belastbar, ich schaffe das im Moment gut.“
Stanka Nikolova, Hausärztin in Syrgenstein
Und genau das ist es, das Stanka Nikolova an ihrem Job so gut gefällt. Die vielen Fachrichtungen, die sie verbinden muss, der interdisziplinäre Blick, die feine Spürnase, der Draht zu den Patienten: „Ich mag das. Und die Verbindung zu den Leuten hier ist eine ganz andere als in der Großstadt. Es herrscht noch Vertrautheit. Das kommt jetzt auch langsam bei mir hier in der Gemeinde“, erzählt die Ärztin.
Patienten, Dokumentation, wirtschaftlicher Druck: Die Arbeitsbelastung ist hoch, doch Nikolova ist motiviert. Sie sagt: „Ich bin jung und belastbar, ich schaffe das im Moment gut.“ Dass sich die Situation ändert, wenn sie älter wird, könne gut sein.
Aktuell versorgt sie Patienten aus dem Bachtal, Anfragen von anderen Gemeinden nimmt sie nur in Absprache an. Sie kennt die Nöte der Menschen, die dringend einen Arzt suchen. „Wenn es medizinisch notwendig ist, nehme ich die Patienten natürlich“, so Nikolova. Denn sie weiß um endlose Warteschleifen und um Aufnahmestopps bei Kollegen. „Alle sind voll“, sagt sie.
Bis 2025 sollen 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein
Dass sich der Engpass in der medizinischen Versorgung zuspitzt, ist längst kein Geheimnis mehr. Bis 2035 sollen in Deutschland laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein. Vor allem auf dem Land soll es eng werden. Gründe für die drohende Versorgungslücke sind die Altersstruktur der derzeit noch praktizierenden Hausärzte und die berufliche Orientierung der nachwachsenden Ärztegeneration, wie es in der Studie heißt. Junge Ärzte wählten statt Einzelpraxen zunehmend Angestelltenverhältnisse und Teilzeitmodelle und wünschten sich eine stärkere multiprofessionelle Zusammenarbeit.
Die Politik will gegensteuern. Elf von 16 Bundesländern haben die sogenannte Landarztquote eingeführt. Über die Programme werden Studienplätze ohne Numerus Clausus, dafür aber mit zehnjähriger Verpflichtung auf Einsatz in einer medizinisch unterversorgten Region, vergeben. Es gibt noch weitere Förderprogramme von den Ländern und auch Kommunen locken mit finanzieller Unterstützung für Praxisunternahmen oder -gründungen.
Auch Bayern und Baden-Württemberg haben eine Landarztquote
Kommt die Landarztquote an? Seitens des Bayerischen Gesundheitsministeriums heißt es: „Grundsätzlich wird das Programm sehr gut angenommen. So gibt es in Bayern stets mehr Bewerber als Studienplätze“. Für das Wintersemester 2025/2026 stehen in Bayern für die Landarztquote acht Prozent der Medizinstudienplätze zur Verfügung. Seit Einführung der Quote zum Wintersemester 2020/2021 haben laut Aussage des Ministeriums insgesamt 571 Studierende ein Medizinstudium ohne NC-Hürde aufgenommen. Die ersten Absolventen werden voraussichtlich im Jahr 2031 ihre Arbeit beginnen.
Pro Jahr 75 Studienplätze in Baden-Württemberg
Auch in Baden-Württemberg gibt es eine Landarztquote: So stehen im Ländle jedes Jahr 75 Studienplätze zur Verfügung, die nicht nach Schulnoten vergeben werden. Damit will das Land „das hausärztliche Versorgungsniveau verbessern und die medizinische Versorgung in Baden-Württemberg flächendeckend sichern“, heißt es.
Schritte wie die Landarztquote sind wirklich sinnvoll. Es gibt viele, die Medizin studieren möchten, aber an den Hürden scheitern.
Stanka Nikolova, Hausärztin in Syrgenstein
Um bereits früher anzuknüpfen, soll die Arbeit im ländlichen Raum auch mehr in die Lehre einbezogen werden. So haben mehrere Universitäten das Neigungsprofil „Ländliche Hausarztmedizin“ eingeführt. Auch die Universität Ulm ist aktiv. Eine Sprecherin lässt wissen: „An der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm bieten wir seit mehreren Jahren den Studientrack Allgemeinmedizin an, den regelmäßig etwa 20 Studierende vom zweiten bis vierten Fachsemester belegen.“
„ULI@land“: Annäherung an ländliche Regionen im Studium
Neben Lehrveranstaltungen am Campus sammelten die Studierenden bereits in der Vorklinik praktische Erfahrungen. „Außerdem bietet die Uni gemeinsam mit Kooperationspartnern in den Landkreisen Heidenheim und Ostalbkreis themenspezifische Exkursionen in Gesundheitseinrichtungen in ländlichen Regionen an“, so die Sprecherin. Das Angebot läuft unter dem Namen „ULI@land“. Mit der Initiative will die Uni „einen substantiellen Beitrag dazu leisten, die Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen sicherzustellen“, heißt es.
Was erwartet Stanka Nikolova morgen?
Stanka Nikolova findet die Bemühungen gut. „Schritte wie die Landarztquote sind wirklich sinnvoll. Es gibt viele, die Medizin studieren möchten, aber an den Hürden scheitern“, sagt sie. Die Quote könne eine gute Möglichkeit sein, hier entgegenzusteuern und mehr Ärzte aufs Land zu locken. „Alle Bemühungen sind gut, denn wir brauchen mehr Ärzte hier draußen“, betont sie.
Für heute ist Feierabend in der Praxis am Rosengarten. Stanka Nikolova weiß nicht, was morgen auf sie wartet. Sie legt den Kopf schief, lächelt und sagt: „Ich könnte mir keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen.“