Jeden Tag, wenn Amelie Krauss zur Arbeit geht, schließt sich in gewisser Weise ein Kreis. Jeder Flur, jede Tür, jedes Geräusch – vertraut. Und doch besonders. Denn hier, in der Kinderklinik in Heidenheim, war die Zangerin vor 22 Jahren selbst Patientin. Schwer krank, gerade ein Jahr und wenige Wochen alt, kämpfte sie um ihr Leben. Heute steht sie selbst am Bett kleiner Patienten. Als Pflegefachfrau, Seite an Seite mit einigen der Menschen, die ihr einst das Leben retteten.
Es sind bittersüße Ereignisse, die die 23-Jährige und ihre Eltern noch heute sehr berühren. Der HZ wollten sie davon erzählen. Amelie Krauss: „In den Medien liest man häufig Negatives. Aber das ist eine Geschichte, die Mut und Hoffnung gibt. Es ist eine schöne Geschichte!“
Die Geschichte, die sich liest, wie das Drehbuch einer Tragikomödie, geht so: Amelie war ein sogenanntes Intensivkind. Im Dezember 2002 kam sie – gerade ein Jahr und vier Wochen alt – mit einem schweren Infekt ins Klinikum. Ihr Zustand: kritisch. Dreißig Tage verbrachten sie und ihre Eltern auf der damaligen Station 56 der Kinderklinik im Klinikum Heidenheim auf dem Schlossberg.
Die schlimmste Nacht im Leben ihrer Eltern
Vater Martin Krauss erinnert sich an eine schlimme Zeit: Bereits in einer der ersten Nächte habe sich das Gesamtbild seiner Tochter derart dramatisch verschlechtert, dass sie in Lebensgefahr geriet. Was er nie vergessen werde: den Anruf, der kurz vor Mitternacht aus dem Klinikum kam. Den Eltern wurde eröffnet: Ihr Kind ist gerade beinahe gestorben. Krauss: „Das war das Schlimmste, was wir jemals zu hören bekamen. Auch 22 Jahre danach geht uns dieser Moment so nahe, wie kein anderes Ereignis unseres Lebens.“
Sämtliche Körperfunktionen der kleinen Patientin hätten für kurze Zeit auf null gestanden. Amelie wurde für drei Wochen in ein künstliches Koma versetzt. Dreißig Tage lang kämpften Ärztinnen, Ärzte und Pflegende um das Mädchen, bangten Eltern um das Leben ihrer Tochter. Der heutige Chefarzt der Station, Dr. Andreas Schneider, stand in kritischen Nächten an ihrem Bett, Schwestern Sylke, Anja und Barbara wachten rund um die Uhr. Eine Bauchfelldialyse, ein künstliches Koma, Weihnachten und Neujahr im Kliniklicht, bis – endlich – vonseiten der Ärzte und Pfleger Entwarnung kam. Es mussten mehrere Wunder geschehen sein, sagt Amelie rückblickend, damit sie überlebte.
Erst Schicksal, dann Berufung
Was diese Geschichte außerdem besonders macht, ist ihre Wendung: die Rückkehr an einen Ort, der für Amelie einmal Schicksal war und heute Berufung ist. Heute ist die 23-Jährige selbst Teil jener Klinik, in der ihr einst das Leben gerettet wurde.
Als Amelie 2020 die Fachhochschulreife an der Kaufmännischen Schule Heidenheim ablegte, hatte sie keinen festen Plan. Am ehesten sah sie sich in einem Bürojob und entschied sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich Medizincontrolling & Archiv des Klinikums. Doch die Begegnungen mit Ärzten und Pflegekräften, die dort täglich ins Büro kamen, ließen sie nicht mehr los. „Die Gedanken schweiften von den Diagnosen und Zahlen auf den Papieren hin zu den Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind“, sagt Amelie heute. „Ich dachte: Jemand kämpft da oben mit einer akuten Erkrankung – und die Pflegenden können kaum helfen, weil sie so unterbesetzt sind.“ Amelie fragte sich: „Würde Pflege zu mir passen?“
Die Antwort: ja. Kurzentschlossen bewarb sie sich an der Pflegefachschule des Klinikums. Eine Entscheidung, die sie bis heute nicht bereut hat – im Gegenteil. Die Ausbildung war intensiv und völlig anders als erwartet. „Ich hätte nie gedacht, wie bereichernd es sein kann, sich um Menschen zu kümmern, die Hilfe brauchen“, sagt sie. Es gehe um so vieles: ums Zuhören, Eincremen, Essenreichen, Medikamente berechnen, Medis herrichten, Notlagen erkennen und reagieren. Und manchmal einfach nur ums Dasein. „Es ist oft nicht einfach. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich es je bereut hätte.“
Heidenheimer Kinderklinik: Damals Patientin, heute Pflegerin
Als es gegen Ende der Ausbildung darum ging, sich für eine Fachrichtung zu entscheiden, fiel ihre Wahl auf die Pädiatrie. Die Arbeit mit Kindern sei herausfordernd, aber tief sinnstiftend. „Es ist so facettenreich, sich um Neugeborene, Kleinkinder oder Jugendliche mit ganz verschiedenen Krankheitsbildern zu kümmern.“ Und ganz persönlich bedeutete die Rückkehr in „ihre“ Kinderklinik noch mehr: „Als ich dort ein paar Tage schnuppern durfte, kannte man mich wegen meines Namens.“ Die Schwestern, die sie damals betreut hatten: nun ihre Kolleginnen. Dr. Andreas Schneider, der ihr einst das Leben rettete: heute ihr Chefarzt.
Die frühere Intensivstation 56 gibt es nicht mehr, sie wurde wegen Personalmangels geschlossen. Personal und Material sind inzwischen auf Station 55 zusammengeführt. Doch Amelie ist geblieben. Jeden Tag erinnert sie sich an das Wunder ihres eigenen Lebens. Und sie gibt etwas zurück – in genau denselben Räumen, in denen ihr einmal geholfen wurde. „Es ist eine Ehre für mich, dass mir heute Kinder anvertraut werden.“
Pflege ist für sie längst mehr als ein Beruf: nämlich eine Haltung. „Besonders wertvoll ist, dass man Teil werden darf an einschneidenden Erfahrungen im Leben anderer: beim Abschiednehmen durch den Tod genauso wie beim Beginn eines neuen Lebens durch eine Geburt.“ Nebenbei arbeitet Amelie Krauss in Teilzeit für die Ökumenische Sozialstation in Steinheim. Dort entdeckte sie im Laufe ihrer Ausbildung auch ihre Liebe zur Seniorenpflege. Krauss: „Ich genieße es, an einem Ort zu arbeiten, der sich trotz aller Herausforderungen so richtig anfühlt.“