Wenn Petra Reiss Besucherinnen und Besucher zum ersten Mal durch das evangelische Kinderzentrum führt, gibt es eigentlich immer einen Wow-Effekt. Das Flachdachgebäude aus den 70ern wirkt von außen eher unscheinbar, aber innen macht es richtig was her. „Da haben die Architekten wirklich gute Arbeit geleistet“, sagt die Leiterin des Zentrums. Durch das offene Gebälk und den Holzboden wirken die Räume warm und gemütlich, durch die große Fensterfront in Richtung des riesigen Gartens sind sie lichtdurchflutet. „Alle Leute sagen, dass es unglaublich schön gebaut ist. Die Räume haben Charme und Ausstrahlung. Und das ist sehr wichtig für Kinder, ein Raum erzieht auch.“
Petra Reiss: „Das ist ein Stück weit mein Zuhause“
50 Jahre alt ist das Herbrechtinger Kinderzentrum jetzt und seit mehr als der Hälfte davon wird es von Petra Reiss geleitet. Genauer gesagt seit 27 Jahren. Und nach all der Zeit gefällt ihr nicht nur das Gebäude noch immer, sondern auch ihr Beruf. Jeden Tag geht sie in die Gruppen, um die Kinder zu begrüßen und arbeitet auch noch mit – sofern es ihre Zeit zulässt. „Das hier ist ein Stück weit mein Zuhause und ich liebe meine Arbeit total“, sagt sie und strahlt dabei. „Es wird zu selten erwähnt, wie unglaublich schön dieser Beruf ist.“ Zu sehen, wie sich Kinder entwickeln, Familien zu begleiten, das sei nicht nur eine wichtige und anspruchsvolle, sondern auch eine wunderbare Aufgabe.

Ihr Büro grenzt mit seiner Fensterfront quasi an die Eingangstür des Kinderzentrums. „Ich habe die Pole Position“, sagt Petra Reiss lachend. Bei einem Umbau sei sie vor ein paar Jahren gefragt, worden, ob eine Schließanlage mit Klingel installiert werden soll. Sie war rundweg dagegen. „Das fände ich furchtbar. Jeder soll hier reinkommen und sich wohlfühlen.“ Nach fast drei Jahrzehnten im Kinderzentrum kennt sie mittlerweile manche der Eltern, die jetzt ihre Kinder bringen, schon selbst von Kindesbeinen an. „Da geht einem wirklich das Herz auf, wenn man sieht, was aus ihnen geworden ist“, sagt die 63-Jährige, die auch für die Freien Wähler im Herbrechtinger Gemeinderat sitzt.
Sind die Eltern heute schwieriger?
Doch wie sind die heutigen Eltern, denen oft Förderwahn und Verwöhnung vorgeworfen wird? Sind sie schwieriger als Eltern früher? „Manche Situationen sind schwierig, aber nicht die Eltern“, sagt Petra Reiss. „Eltern von heute haben im Vergleich zu früher ganz andere Themen und ihre Lebenssituation hat sich völlig verändert.“ Heute müsse Beruf und Familie verbunden werden. „Es müssen und wollen meistens beide arbeiten; was die Familien stemmen, ist schon viel.“
Und wenn das jemand beurteilen kann, dann Petra Reiss. Sie selbst blieb nach der Geburt ihrer Tochter zehn Jahre zu Hause. Mit 30 begann sie ihre Ausbildung zur Erzieherin. Heute ist ihre Tochter erwachsen und leitet die Krippengruppe Spatzennest. „Sie hat zwei Kinder, auch ihr Mann ist berufstätig“, sagt Reiss. „Ich konnte die Zeit als Mutter viel mehr genießen. Das lässt sich gar nicht vergleichen.“ Heute müsse jedes Familienmitglied funktionieren, auch die Kinder. Der Alltag sei komplett durchgetaktet. Sie glaubt, dass auf den Eltern ein großer gesellschaftlicher Druck liegt, weil alles perfekt und reibungslos laufen soll. Ihre Aufgabe sieht sie auch darin, am gesellschaftlichen Wandel dranzubleiben und ihn mitzugehen. „Wenn sich das Leben der Familien verändert, müssen wir uns da reinfühlen.“

Freie Betreuungsplätze gibt es im Kinderzentrum eigentlich nie. Insbesondere das Spatzennest sei extrem beliebt. „Wir könnten noch eine Krippengruppe anbieten, so groß ist die Nachfrage“, sagt Petra Reiss. Insgesamt werden im Kinderzentrum, in dem es auch eine Hortgruppe gibt, 90 Kinder von 15 Erzieherinnen betreut. Ein Erzieher ist darunter, im September kommt ein weiterer dazu. „Viele sagen: Toll, dass hier ein Mann arbeitet. Und das ist auch eine Bereicherung, aber es reicht nicht, nur ein Mann zu sein“, sagt Petra Reiss und fügt an: „Ein Mann muss hier dasselbe leisten wie eine Frau.“ Und wie muss Mann hier seine Frau stehen? „Im Team sind alle hochengagiert und mit viel Herzblut und großem Einsatz dabei. Da müssen die Männer mitziehen. Das ist ein Beruf, den man mit Herz machen muss.“ Was aber nicht bedeute, dass die Bezahlung – die sich zwar in den vergangenen Jahren verbessert habe – hinter dem Verdienst in der Industrie hinterherhinken dürfe. „Es darf nicht am Geld scheitern, wenn sich jemand für den Beruf interessiert.“

Das Kinderzentrum ist eine evangelische Einrichtung und so geht es im Alltag auch um christliche Werte. „Die Kinder hören hier von Jesus und Gott auf eine sehr positive Weise“, beschreibt Petra Reiss. „Ich denke, es ist schön, wenn sie wissen, dass sie behütet sind.“ Mittlerweile sei etwa ein Drittel der Kinder im Kinderzentrum muslimischen Glaubens. „Das ist aber überhaupt kein Problem“, sagt die Leiterin. „Wir haben alle einen Gott, er heißt nur vielleicht anders. Was die Kinder hier hören, hat mit Liebe zu tun. Wer soll etwas dagegen haben?“
Zwar ist sie 63, aber ein Leben ohne ihr Kinderzentrum kann sich Petra Reiss nur schwer vorstellen. Nach mehr als 30 Jahren im Berufsleben noch immer jeden Tag gern ins Geschäft zu gehen, das hat wohl Seltenheitswert. Dessen ist sich Petra Reiss auch bewusst. „Schon als ich meine Ausbildung begonnen habe, wollte ich im Kinderzentrum arbeiten. Ich freue mich noch heute darüber, dass es geklappt hat.“ Noch ist ihr Abschied nicht absehbar. „Ich warte auf einen guten Zeitpunkt, aber einfach wird das nicht.“
Tag der offenen Tür am Sonntag, 25. Mai
Am Sonntag, 25. Mai, findet im evangelischen Kinderzentrum in der Eselsburger Straße 7 in Herbrechtingen anlässlich des 50-jährigen Bestehens ein Tag der offenen Tür statt. Ab 10 Uhr gibt es eine Andacht, es folgen Grußworte inklusive Sektempfang, es gibt Snacks und Kaffee und Kuchen. Die Erzieherinnen stellen ihre Arbeit vor und die Kinder können beim Farbschleudern, bei naturpädagogischen Experimenten oder auf der Hüpfburg aktiv werden. Im Rahmen des Jubiläums wird es am 7. Oktober noch einen Auftritt des Topolino-Figurentheaters geben und am 18. November findet ein Vortrag zum Thema „Erste Hilfe am Kind“ statt.