Rolle rückwärts in der Bildungspolitik: Künftig geht es für Gymnasiasten wieder in neun Jahren zum Abitur. Die Umstellung erfolgt mit dem neuen Schuljahr für die Klassen fünf und sechs. Welche Inhalte sind neu, welche Themen bekommen mehr Gewicht? Was ändert sich im Schulalltag und wird jetzt alles besser? Axel Krug, Schulleiter des Herbrechtinger Buigen-Gymnasiums, blickt kritisch auf die Wiedereinführung von G9, zeigt auf, was sich verändern soll – und spricht über die Herausforderungen unserer Zeit.
Herr Krug, Sie sind seit 1997 im Schuldienst, seit 2003 am Buigen-Gymnasium und seit 2012 Schulleiter in Herbrechtingen. Sie verfügen über die nötige Erfahrung, sagen Sie uns: Wie sinnvoll ist die Rückkehr zu G9?
Ein System, das 20 Jahre lang gut funktioniert hat, wieder abzuwickeln, ist schon ein dickes Ding. Aus meiner Sicht hätte es das nicht gebraucht. Fünf von sechs Gymnasien im Kreis haben G8 gefahren – wir konnten nichts Messbares ermitteln, das gegen G8 spricht.
Interessant, Sie haben also gute Erfahrungen mit G8 gemacht?
Ich persönlich und wir als Schule haben gute Erfahrungen damit gemacht. Baden-Württemberg hatte das Konzept, anders als etwa Bayern, wirklich gut umgesetzt.
G8 war eigentlich die richtige Antwort auf viele Herausforderungen unserer Zeit.
Axel Krug, Schulleiter des Buigen-Gymnasiums
Betrachten Sie die Rolle rückwärts zum neunjährigen Gymnasium mit Wehmut?
Ja, in Anbetracht der vielen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die auf uns zukommen, finde ich es einfach schade. Wenn wir es nicht mal schaffen, eine gut funktionierende Veränderung beizubehalten, haben wir auf lange Sicht ein Problem. G8 war eigentlich die richtige Antwort auf viele Herausforderungen unserer Zeit.
Ich hake ein. Im Schuljahr 2004/2005 wurde auf G8 umgestellt, unter anderem, um im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig zu bleiben, Schüler schneller in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Das Turbo-Abi geriet aber schnell in Verruf. Die Rede war von ausgebrannten Kindern und gehetzten Eltern: Die öffentliche Haltung war zuletzt eindeutig. Eine Elternpetition wurde gestartet. Die Politik geriet unter Druck. Jetzt kam die Schulgesetzänderung.
Klar, Bildungspolitik ist emotional aufgeheizt. Eltern versprechen sich jetzt mehr von einem neuen G9. Aber wenn wir einfach den internationalen Wettbewerb sehen, muss man sagen: Viele umliegende Länder fahren G8 – sie kommen gut klar. Und „ausgebrannte Kinder“ wegen der Schule? Ich weiß nicht, ob da nicht ein paar Dinge durcheinandergeraten sind.
Fakt ist: G9 ist wieder da – und das Kultusministerium verspricht Neuerungen. Lassen Sie uns in die Details gehen: Wie neu ist das neue G9?
So richtig neu ist davon eigentlich wenig. Denn alles war, zumindest in Ansätzen, schon da. Wir haben auch bereits zuvor informationstechnische Grundbildung betrieben, um nur ein Beispiel zu nennen. Von der Stärkung der Kernfächer und des Mint-Bereiches sprechen wir seit Jahren. Das neue G9 ist also beileibe keine Revolution. Dennoch ist die Umstellung ein ordentliches Brett für alle, die den Schulalltag zu organisieren haben. Das muss ja auch mit den anderen Schularten abgestimmt sein. Die Übertrittmöglichkeiten müssen gegeben sein. Und die Stundentafel, die das Kultusministerium vorgibt, muss umgesetzt werden.
So viel Skepsis? So mancher Kollege freut sich über die Rückkehr zu G9.
Ja, sicher. Da sind die Meinungen gespalten. Aber auch einen vermeintlich komfortableren Weg darf man in Frage stellen. Sie müssen ja auch sehen: G9 kostet ja auch Geld. Ich hätte mir gewünscht, dass man mit diesem Geld etwas anderes macht. Frühkindliche Bildung, Sprachentwicklung – man weiß ja aus der Forschung, dass diese frühkindliche Zeit unheimlich prägend ist. Das Gymnasium war nie das Problem. Aber dort gibt es halt die lautesten Eltern. Auch der Ausbau der Ganztagesstrukturen wäre sinnvoll gewesen. Denn wir müssen alle Bildungspotenziale heben, weil wir sie brauchen, um als Gesellschaft leistungsfähig zu bleiben. Im Ganztagesbetrieb kann man Sprachbarrieren aufbrechen und Kinder aus bildungsferneren Schichten können wachsen. Das wäre vielleicht noch wichtiger gewesen.
Egal, wie eine Stundentafel aussieht, ausschlaggebend ist, was im Unterricht stattfindet.
Axel Krug
Blicken wir auf die viel diskutierte Stundentafel. Also den Plan, der vorgibt, wie viel von welchem Fach unterrichtet werden muss. Im neuen G9 soll es in den Kernfächern mehr Stunden geben, auch sogenannte Poolstunden können je nach Bedarf verteilt werden. Wie sehr stellt das Ihren Schulalltag auf den Kopf? Wie wird das den Schulalltag der Kinder verändern?
Gar nicht. Wir versuchen, den Übergang für Eltern und Kinder so smooth wie möglich zu machen. Ich denke, sie werden gar nichts oder nur wenig davon mitbekommen. Die vom Kultusministerium vorgegebene Stundentafel ist für uns der Kern von G9. Also wie viel Mathe und Deutsch muss bis zum Zeitpunkt X gelehrt worden sein, zum Beispiel. Um die Stundentafel gab es natürlich viele Diskussionen – und es tat sich die Möglichkeit auf, seiner Schule mehr Profil zu geben. Doch klar ist auch: Egal, wie eine Stundentafel aussieht, ausschlaggebend ist, was im Unterricht stattfindet. Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
Und wie will das Buigen-Gymnasium sein Profil schärfen?
Wir bieten künftig NIT an – Naturwissenschaft, Informatik und Technik, um die Mint-Fächer zu stärken. Weiter bauen wir einen Kreativzweig auf, der etwa Film, Kunst, Theater vereinen möchte. Hier nutzen wir die neu zur Verfügung gestellten Poolstunden. Das ist ein echter Handlungsspielraum, der sich durch das neue G9 ergibt. Und den nutzen wir.
Sie hatten es bereits erwähnt: Das neue G9 soll die Kompetenzen in den Kern- und Mint-Fächern stärken. Haben wir hier noch immer keinen Fortschritt geschafft?
Wir schauen da heute genauer hin. Und man hat beobachtet, dass es da noch was zu tun gibt. Neu ist nun, dass wir differenziert in Leistungsniveaus arbeiten müssen. Das ist jetzt tatsächlich verpflichtend. Heißt, die Schüler werden je nach Niveau getrennt unterrichtet – zumindest phasenweise. Das stärkt das individuelle Lernen. Wir sehen einfach, dass Mathe und Deutsch als Kernkompetenzen unter Druck kommen. Und wir wissen, dass es gut ist, in den Kernfächern in der Unterstufe eine gute Basis zu legen. Das soll forciert werden.
Demokratiekompetenz sollen mehr Gewicht bekommen. Wie darf man sich das vorstellen?
Vieles läuft da fächerübergreifend. Demokratiebildung etwa war bereits seit 2016 eine sogenannte Leitperspektive. Ich finde es gut, dass das Thema explizit hervorgehoben wird. Weil die Schüler sich einfach Gedanken machen müssen, in welcher Welt sie leben wollen – spätestens dann, wenn Demokratie unter Druck gerät, wird das Thema. In Klasse 5 und 6 soll das im Rahmen der Klassenlehrerstunden erfolgen. Über Mitgestaltung Selbstwirksamkeit erfahren, im Kosmos Schule demokratische Strukturen erleben. Auch die SMV spielt hier eine wichtige Rolle.
Weiter kommt das neue Pflichtfach „Informatik und Medienbildung“ durchgängig für die Klasse 5 bis 11.
Ja, und das ist auch nicht ganz neu. Vorher gab es Fächer wie ITG oder dergleichen. Es ist jetzt eher eine politische Ansage an die Schulen, hier ein Augenmerk drauf zu legen. Die Schülerinnen und Schüler sollen den kritischen Umgang mit Medien lernen.
Ein individuelles Unterstützungsprogramm für Schüler ist geplant. Wie soll das aussehen?
In Klasse 7 und 10 soll ein Mentoring stattfinden. Lehrer sollen sich hier intensiver individuell mit den Schülern und deren Bildungsbiografie auseinandersetzen und sie an diesen Scharnierstellen unterstützen und beraten.
Auch Künstliche Intelligenz soll im neuen G9 eine Rolle spielen – inwiefern?
Die Frage ist ja, wo können digitale Medien den Lernprozess unterstützen – und wo werden sie zur Gefahr? Wovon ich mir viel versprechen würde, wäre KI in adaptiven Lernformen. Hier könnte KI Defizite oder Kenntnisse filtern und den Lernprozess steuern. Das könnte die Lehrkraft entlasten und für echtes individuelles Lernen sorgen. Ich denke, hier kann KI ein echter Gamechanger sein. Noch stehen uns solche adaptiven Programme aber nicht zur Verfügung. Und natürlich spielt auch der Umgang mit KI eine Rolle, das kann in vielen Bereichen in den Unterricht integriert werden. Wenn man weiß, damit umzugehen, kann KI ein echter Gewinn sein.
Wenn G9 für etwas gut ist, dann dafür, dass vielleicht Jungs in G8 etwas unter die Räder gekommen sind. Diese Schüler haben jetzt durch G9 etwas mehr Luft.
Axel Krug
Auch wenn Sie G9-Kritiker sind, hat die Umstellung für Sie positive Aspekte?
Wenn G9 für etwas gut ist, dann dafür, dass vielleicht Jungs in G8 etwas unter die Räder gekommen sind, weil deren Entwicklung anders verläuft und sie aus dem tiefen Tal der Pubertät erst spät herauskommen. Diese Schüler haben jetzt durch G9 etwas mehr Luft. Und klar, die zusätzliche Zeit in der Oberstufe führt natürlich durchaus zu differenzierterem Lernen. Da kann man mit den Schülern auf einem noch höheren Abstraktionsniveau arbeiten. Das ist auch für uns Lehrer spannend. Und: Kinder mit Migrationshintergrund oder Sprachbarrieren können von der zusätzlichen Zeit profitieren, klar. Diese Kinder hätten aber auch ein Jahr wiederholen können. Dafür ein ganzes System umzustellen, ist schon hart.
Schulen sollen die Möglichkeit haben, weiterhin G8-Züge anzubieten. Ist das im Landkreis ein Thema?
Zwei Gymnasien hatten das Angebot gemacht, aber nicht die benötigte Schüleranzahl erreicht. Im Kreis Heidenheim wird also kein G8-Zug angeboten. Das können wahrscheinlich nur große Schulen stemmen.
Nach der Elterninitiative ist vor der Elterninitiative: Aktuell läuft eine Petition, die sich dafür einsetzt, dass auch jahrgangshöhere Klassen zu G9 übertreten können.
Ich hoffe und bete inständig, dass es nicht so weit kommt. Das würde ein Chaos auslösen und muss einfach nicht sein. Ich sehe den Bedarf dafür nicht und hoffe, dass die Regierung standhaft bleibt.
Blicken wir noch auf den Übertritt auf die Gymnasien: Vergangenes Schuljahr hatte der neue Vergleichstest Kompass4 für Furore gesorgt, mit welchem einhergehend eine neues und bindendes Übertrittsverfahren auf die weiterführenden Schulen zugrunde liegt. Lief das reibungslos bei Ihnen?
Ja, die neue Grundschulempfehlung wird sich noch etwas zurechtruckeln, denke ich. Aber im Prinzip lief es gut. Interessant ist die Sache mit dem Potenzialtest, den Schüler machen, die mit der Grundschulempfehlung nicht einverstanden sind. In unserem Regierungsbezirk haben 30 Prozent den Potenzialtest geschafft und somit die Hürde ans Gymnasium genommen. Fakt ist: Bei uns waren da einige Kinder mit Sprachbarrieren. Hier haben wir in der Diagnostik möglicherweise etwas aufzuholen. Ein nonverbaler Intelligenztest wäre denkbar. Wir können es uns nicht leisten, die Kinder, die es kognitiv draufhaben, nicht entsprechend zu fördern.
In Dänemark steht Empathie als Schulfach auf dem Stundenplan. Hätten Sie sich mehr Kreativität bei der Ausgestaltung des neuen G9 gewünscht?
Im Hinblick auf den Fächerkanon nicht. Ich hätte mir eine bessere Ressourcenausstattung gewünscht, so dass wir besser ein verlässliches Ganztagsangebot bieten können. Eines, das – zusätzlich zu unseren vielen attraktiven AGs – wirklich qualitativ hochwertig ist. Ich hoffe, dass dies der nächste Schritt in der Weiterentwicklung der Gymnasien wird.
Blicken wir zum Abschluss auf die Schullandschaft im Allgemeinen. Unser System ist so durchlässig wie nie zuvor und doch herrscht gefühlt großes Gerangel um die Schulwahl. Wie erleben Sie dies in all den Jahren ihrer Lehrtätigkeit?
Das Gymnasium ist unglaublich sexy, alle wollen dahin. Manchmal ist das auch Ausdruck oder Projektion der Elternwünsche, die natürlich immer das Maximum für ihr Kind wollen. Insgesamt würde ich mir wünschen, dass das Zutrauen in die Lehrerschaft wieder mehr wächst. Alle Kollegen, die hier sind, sind pädagogische Überzeugungstäter. Denen darf man vertrauen. Und klar, Bildung ist emotional aufgeladen. Die Leute spüren, dass die Wettbewerber drücken. Die Gesellschaft ist angespannt, es herrscht Unsicherheit – das zeigt sich auch an den Schulen.
Aus der Lehrerbrille: Was raten Sie Eltern?
Ich würde den Eltern raten, das Kind immer als eigenes Individuum zu sehen und die eigenen Erwartungen vom Kind zu trennen. Fakt ist auch: Wir brauchen Leistungsbereitschaft, kluge Köpfe. Wir sollten alles tun, um die Potenziale der Kinder zu entfalten.