Als die 45-jährige Sabrina Scharf den Saal in der Heidenheimer Stadtbibliothek betrat, um einen Vortrag zum Thema „Nach zehn Jahren Magersucht auf dem Weg der Genesung“ zu halten, war sofort klar: Sie ist noch nicht geheilt. Das sagte sie auch gleich: Sie ist immer noch untergewichtig, sie kämpft weiter, aber sie schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Scharf erzählte schonungslos von ihrer zehn Jahre andauernden Magersucht, was dies mit ihrem Körper gemacht und wie lange sie gebraucht hat, obwohl Familie und Freunde sie immer wieder anflehten, um selbst zuzugeben: „Ich brauche Hilfe.“
Den Anschein erwecken, alles unter Kontrolle zu haben
Die Sinzheimerin berichtete von – für Außenstehende, nicht in diesem Teufelskreis Gefangene – absurden Tricks und Gedankenspiralen, die ihren Alltag und ihr Denken beherrschten, während sie selbst glaubte, alles unter Kontrolle zu haben. In Wirklichkeit – aber das erkennt man wie bei jeder Sucht erst viel später – hatte Scharf nichts mehr unter Kontrolle. Nach außen hin funktionierte sie: Sie war verheiratet, Mutter einer kleinen Tochter, im Beruf erfolgreich, nahm an einem Megamarsch (100 Kilometer in 24 Stunden) und einer Gletscherbesteigung teil. Dazu sagte sie: „Das war lebensgefährlich.“ Sie wog 44 Kilogramm bei einer Größe von 1,76 Metern. Sie ist viel Auto gefahren, oft mit ihrer Tochter, und auch da sagte sie: „Mir hätte der Führerschein lebenslang entzogen werden müssen.“
Denn eine Magersucht – wie auch andere Formen der Essstörung wie Bulimie, Binge Eating (unkontrollierbare Heißhungerattacken im Wechsel mit Hungerphasen) und Adipositas – schädigen den Körper, die Organe, Muskeln und das Gehirn, den Beckenboden (sie konnte nichts mehr halten) so lebensgefährlich, dass man nicht nur nicht mehr richtig denken kann, sondern dass etwa 10 bis 15 Prozent der Erkrankten daran auch sterben. Depression und totale Erschöpfung bei gleichzeitigem Aufrechterhalten der Fassade waren ihre Begleiter. Sie sprach von einer inneren Stimme, die alle Betroffenen hören, und die ihr gesamtes Leben diktiert habe – was sie tun solle, was sie vermeiden solle –, und dass sie alle Menschen in ihrem Umfeld hinterging.
„Ich war eine Meisterin der Täuschung.“
Sabrina Scharf,
leidet an Magersucht
„Ich war eine Meisterin der Täuschung.“ Erst als ihre damals 12-jährige Tochter verzweifelt unter Tränen sagte: „Mama, ich hab’ solche Angst, dass du stirbst“, wurde bei ihr „der Schalter umgelegt“. Auch dies sagte sie auf die vielen Fragen aus dem Publikum – fast jeder kannte eine betroffene Person in der eigenen Familie: „Man kann die Menschen, vor allem Erwachsene, nicht zwingen.“ Kinder und Jugendliche würde sie bei akuter Lebensgefahr in eine Klinik einweisen lassen. Bei Volljährigen müsse man letztlich darauf warten, wann die Person selbst erkennt, dass sie Hilfe braucht. Es sei sehr schwierig, das anzusprechen, wichtig sei, den Menschen ernst zu nehmen und auf keinen Fall Dinge zu sagen wie: „Iss doch endlich mal was!“, oder bei Übergewicht: „Iss doch einfach weniger!“ Wie bei jeder Sucht funktioniert das nicht.
Die Betroffenen sollten von ihrem Umfeld auch als normale Menschen behandelt und nicht nur auf ihre Krankheit reduziert werden. Das Publikum stellte Fragen und erzählte berührende Lebensgeschichten von Familienangehörigen. Besonders eine junge Betroffene erzählte sehr mutig von ihrem Weg. Zum Schluss sagte Scharf noch, bevor sie großen Applaus bekam: „Heute würde ich mir viel schneller Hilfe holen. Je eher man das tut, desto schneller kann man wieder in ein normales Leben zurückfinden.“
Wo sich Betroffene und Angehörige Hilfe holen können
Die Grenzen zwischen den Essstörungen sind fließend, vielen sieht man ihr jahrzehntelanges Leiden nicht an. Therapieplätze sind oft mit langen Wartezeiten verbunden und nicht jeder Arzt kennt sich mit der Thematik aus. Es gibt auf Essstörungen spezialisierte Kliniken und generell sind Psychologen, Psychiater, Psychosoziale Beratungsstellen und Kliniken Ansprechpartner. Es gibt Selbsthilfegruppen und Netzwerke von Betroffenen und Angehörigen. Neben Psychotherapien gibt es auch die Möglichkeit von Traumabehandlungen.
Menschen im Landkreis Heidenheim, die an Essstörungen leiden, sowie deren Angehörige, können sich zum Beispiel an folgende Adressen wenden: Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Heidenheim (Tel. 07321.33-2452); Angehörigentreff der Suchtselbsthilfe in Heidenheim, 14-tägig, Infos bei Peter Barth unter Tel. 07321.32112523; neo-iv.de – Netzwerk Essstörungen Ostalb (ab 18, nur AOK-Versicherte); online unter bzga-essstoerungen.de.
Kinder und Jugendliche sollten, wenn noch keine akute Lebensgefahr vorliegt (in diesem Fall bleibt nur eine Klinikeinweisung), bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Hilfe suchen. Möglich ist dies auch in der Klinik in Ellwangen.
Die Vortragende Sabrina Scharf bietet an, ihr zu jeglichen Fragen eine E-Mail an sabrina.scharf@t-online.de zu schreiben. Ihre Homepage lautet sabrina-scharf.de.
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