Nach mehr als drei Jahrzehnten schließt die Kinder- und Jugendarztpraxis an der Bergstraße in Heidenheim ihre Türen. Kinderärztin Ines Dietz geht in den Ruhestand – mit gemischten Gefühlen. Sie blickt zurück auf unzählige Begegnungen mit Kindern und Familien, gleichzeitig führt die fehlende Nachfolge dazu, dass Eltern künftig längere Wege und längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Die Versorgung in der Stadt steht damit vor weiteren Herausforderungen.
Dietz eröffnete ihre Praxis 1993. Bunte Bilder und Spielzeug prägen die Räume, die über Jahrzehnte intensiv genutzt wurden. Geboren in Rostock, aufgewachsen in Thüringen, studierte sie in Rostock Medizin und ließ sich zur Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde ausbilden. Mit ihrem Mann, einem Fachinternisten, zog sie später nach Heidenheim.
„Als mir damals zur Auswahl stand, was ich machen könnte, war mir die Kinderheilkunde am sympathischsten“, sagt Dietz. Viele Erkrankungen, die sie behandelte, waren vorübergehend – etwa Mandelentzündungen oder Fieberkrämpfe. „Aber es gibt auch chronisch kranke Kinder, bei denen man lange nach der Diagnose suchen muss. Wenn man dann herausfindet, was es ist, und helfen kann, ist das etwas Besonderes.“
Prägend sei auch ihre Zeit in einer Klinik gewesen. „Wenn Kinder mit einer Meningokokken-Sepsis völlig bewusstlos eingeliefert wurden, man sofort Antibiotika gibt – und nach zwei Stunden erwacht das Kind wieder? Solche Momente vergisst man nicht.“ In der Praxis sei man eher das „Sieb“, das schwerere Fälle weiterleite. Aber auch hier sei es schön, eine Diagnose zu finden.
Veränderungen in der Kinder- und Jugendmedizin
Über die Jahre habe sich die Kinderheilkunde stark verändert, sagt Dietz. Klassische Kinderkrankheiten wie Masern oder Mumps seien durch Impfungen selten geworden. „Heute gibt es mehr chronische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und psychosomatische Beschwerden.“ Vorsorgeuntersuchungen hätten zugenommen, Eltern seien informierter und stellen mehr Fragen. Häufig gehe es um Themen wie Schnuller-Abgewöhnung, Kariesprävention oder Ernährung. „Gerade Zähne bei Kleinkindern sind heute sehr selten geworden. Ich sehe immer öfter das typische Schnuller-Gebiss.“
Mehr Bürokratie, weniger Nachfolger
Parallel sei die Bürokratie enorm gewachsen. „Der Computer ist wie ein Klotz am Bein. Ein Rezept dauert heute mindestens doppelt so lange wie früher.“ Jeder Klick koste Zeit, die eigentliche Arbeit am Kind leide. Seit Jahren werde vom ‚Bürokratieabbau gesprochen‘, tatsächlich würden die Vorschriften immer mehr. Für viele Ärztinnen und Ärzte sei das ein Grund, keine Praxis zu übernehmen, so die Ärztin.
Auch Dietz fand keine Nachfolge. Eine Ärztin hatte bereits zugesagt, entschied sich dann aber um. Nun zieht ein Urologe in die Räume ein. „Die Verantwortung für eine eigene Praxis möchten viele heute nicht mehr tragen. Angestellt zu arbeiten – etwa in einem MVZ oder einer Klinik – ist für viele attraktiver.“
Zahlen und Sicht der KVBW
Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sind im Landkreis Heidenheim derzeit 8,5 kinderärztliche Arztsitze belegt. Der Versorgungsgrad liegt bei 102,7 Prozent. Damit gilt der Landkreis formal als ausreichend versorgt, ein weiterer Arztsitz ist aktuell frei. Dieser wird bei der nächsten Aktualisierung der Bedarfsplanung berücksichtigt.
Die Realität sei jedoch komplexer. Die Zahl der Kinderärztinnen und -ärzte habe in den vergangenen Jahren zwar zugenommen, doch viele arbeiten in Teilzeit oder angestellt. Dadurch sinkt die verfügbare Arztzeit, während die Nachfrage steigt. Zudem gebe es immer mehr Spezialisierungen, was die allgemeine Versorgung zusätzlich einschränke. Laut KVBW sei die Pädiatrie mit rund 1000 Ärztinnen und Ärzten in Baden-Württemberg ohnehin eine kleine Fachgruppe.
Die Versorgung sei daher vielerorts angespannt – nicht nur im ländlichen Raum. Auch in Ballungsgebieten seien die Wartezimmer voll, frei werdende Praxen ließen sich nur schwer nachbesetzen. Ein Beispiel ist der Landkreis Rottweil, der 2024 erstmals als unterversorgt ausgewiesen wurde.
Warum eine Praxisübernahme schwierig ist
Die Einschätzung der KDVW deckt sich mit der von Ines Dietz. Viele junge Ärztinnen und Ärzte bevorzugen eine Anstellung mit Teilzeit und geregelten Arbeitszeiten, statt eine eigene Praxis zu übernehmen, die mehr Bürokratie, wirtschaftliches Risiko und Verantwortung mit sich bringt. Für Heidenheim sieht die 64-Jährige deshalb besonderen Handlungsbedarf: Es bräuchte vor Ort bessere Rahmenbedingungen, weniger Bürokratie, Unterstützung bei der Niederlassung und finanzielle Anreize. Zwar gehört Heidenheim zu den offenen Planungsbereichen, in denen eine Niederlassung grundsätzlich möglich ist, doch im Unterschied zu anderen Regionen werden hier keine speziellen Förderungen angeboten.
Für Familien bedeutet das dennoch längere Wege und Wartezeiten, da andere Praxen ausgelastet sind und Hausärzte in Heidenheim die Vorsorge nur bedingt auffangen können.
Ein neuer Lebensabschnitt
Trotz des Abschieds von Familien und Kindern, die sie über mehrere Generationen betreut und aufwachsen sehen hat, freut sich Dietz auf den Ruhestand. Nach Jahrzehnten harter Arbeit möchte sie reisen und ihre Hobbys pflegen. Gleichzeitig kann sie sich vorstellen, stundenweise in einer Notfallpraxis zu helfen. „Falls die Langeweile mich überkommt“, sagt sie lächelnd, „gehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge – aber ich freue mich auf den nächsten Lebensabschnitt.“
Was die KVBW unternimmt
Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) unterstützt Ärztinnen und Ärzte, die sich niederlassen wollen, mit Beratung zu Praxisgründung, Abrechnung und IT. Auch die Weiterbildung von Kinder- und Jugendärzten wird gefördert, zusätzliche Stellen aus Landesmitteln sind jedoch nur bis 2025 gesichert. Seit 2019 gibt es keine Mengenbegrenzung mehr bei der Vergütung, Vorsorgeuntersuchungen werden vollständig bezahlt, die U3-Vorsorge sogar extra gefördert. Außerdem arbeitet die KVBW mit Kommunen und Ärzten vor Ort an Lösungen gegen Engpässe. Eltern, die dringend einen Termin brauchen, können sich an die Terminservicestelle unter 116117 wenden.