Blick ins Archiv der Heidenheimer Zeitung

Welcher Katastrophe Heidenheim vor 60 Jahren möglicherweise nur knapp entging

Kinderfest, Straßenbau, Eisenbahnmodell – Juli und August 1965 scheinen in Heidenheim in geordneten Bahnen zu verlaufen. Ein Blick ins Archiv der Heidenheimer Zeitung zeigt, dass es auch anders hätte kommen können.

60 Stunden arbeitet Josef Huber im Jahr 1913. Woche für Woche. Stundenlohn: 26 Pfennig. Im Juli 1965 ist der Oberlokführer in Diensten der Bahn längst Ruheständler. Aber etwas wehmütig blickt er dann doch auf jene vergangenen Zeiten zurück, als er und der ehemalige Lokführer Fridolin Meyer am Neresheimer Bahnhof unverhofft noch einmal im Rampenlicht stehen: „An Weihnachten 1913 ist die Lok zu uns gekommen“, sagt Huber.

Die Lok, das ist die „Schättere“. Eine Dampflokomotive, die jahrzehntelang unermüdlich Kilometer um Kilometer zwischen Aalen und Dillingen abspult. Vier Millionen sind es am Ende angeblich. Und jetzt also, im Juli 1965, nimmt ein Tieflader der Firma Fritz Widmann sie huckepack, um sie vom Härtsfeld nach Heidenheim zu transportieren.

Backen aufblasen und los geht’s: Sackhüpfen beim Heidenheimer Kinderfest im Juli 1965. Archiv

Dank einer Spendenaktion der Heidenheimer Zeitung entgeht die „Schättere“ dem Schrottplatz. Stattdessen soll sie als Attraktion auf einem Spielplatz ihre Endstation erreichen. Zuvor absolviert sie noch eine wahre Triumphfahrt: Mit lautem Gebimmel und umweht von Dampfschwaden dreht sie eine Runde durch die Innenstadt und stiehlt dem Kinderfestzug vorübergehend die Schau.

Tausend bunte HZ-Luftballons wandern von der Lok herab in Kinderhände, und Fridolin Meyer kramt in seinen Erinnerungen: „Nach dem Ersten Weltkrieg hab‘ ich als Lokführer im Monat 120 Mark gehabt, aber damals hat die Halbe Bier auch nur 20 Pfennig, und ein Backsteinkäs‘ zehn Pfennige gekostet.“

Eisenbahnmodell im Bahnhof

Ebenfalls für einen Groschen ist ein Vergnügen zu haben, das in der Schalterhalle des Heidenheimer Bahnhofs steht: Sobald die Münze eingeworfen ist, setzen sich die Räder des maßstabsgetreuen Nachbaus einer Heißdampf-Vierzylinder-Schnellzuglok der ehemaligen Württembergischen Staatsbahn von 1909 in Bewegung.

Viele leuchtende Kinderaugen kleben an dem Modell, bei den Erwachsenen ist unterdessen der Trend zum eigenen Auto unverkennbar. Der Heidenheimer Tüv erklärt sich diesen Trend vor allem mit dem wachsenden Angebot auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Naturgemäß lassen sich Folgen der Entwicklung auch an der Unfallstatistik ablesen: Im ersten Halbjahr 1965 kracht es in Stadt und Kreis Heidenheim 1014 Mal. Dabei entsteht Sachschaden in Höhe von insgesamt 1,18 Millionen Mark. 381 Personen werden verletzt, 17 kommen ums Leben. Zum Vergleich: 1964 gibt es zwischen Januar und Juni bei 1003 Unfällen 390 Verletzte und 18 Tote. Der Sachschaden summiert sich auf 1,09 Millionen Mark.

Kreuzung Wilhelm-/Bergstraße: Im Sommer 1965 gibt’s einen neuen Kanal und einen frischen Fahrbahnbelag. Archiv

Mehr Fahrzeuge bedeuten auch eine größere Verkehrsbelastung und verstärkten Ausbesserungsbedarf. So erhält die Wilhelmstraße im Sommer 1965 zwischen Schnaitheimer- und Bergstraße nach umfangreichen Kanalbauarbeiten einen frischen Fahrbahnbelag.

Eine Million Mark kostet der Ausbau des provisorischen Sträßchens im Katzental, das den Schlossberg mit der Erchenstraße verbindet. Weil mehrere Zehntausend Kubikmeter Erdreich bewegt werden, beträgt die Steigung nur noch die Hälfte der ursprünglich bis zu 20 Prozent. Am 25. August rollt der Verkehr erstmals offiziell auf dieser Route, während Gedankenspiele, einen Tunnel durch Heidenheims Hausberg zu treiben, damit zu den Akten gelegt sind.

Das Heidenheimer Katzental: Ab August 1965 verbindet eine komfortabel ausgebaute Straße den Schlossberg mit der Erchenstraße. Archiv

Ganz und gar Realität ist hingegen der Flugverkehr über Heidenheim. Viele der hier lebenden Menschen könnten die Uhr nach jener Verkehrsmaschine der Austrian Airlines vom Typ Caravelle stellen, die Tag für Tag von Wien kommend gegen 9.55 Uhr die Innenstadt überquert, in Stuttgart zwischenlandet und anschließend nach Paris weiterfliegt.

All das völlig reibungslos. Bis zum 22. Juli. An diesem Tag entgeht Heidenheim möglicherweise nur knapp einer Katastrophe. Die HZ zitiert einen Bericht der „Frankfurter Abendpost“, demzufolge vier Starfighter der Luftwaffe der Maschine in 3000 Metern Höhe bis auf 100 Meter nahekommen und erst dann unter ihr hindurchtauchen.

Nationalität bleibt unklar

Nach einigen Tagen verlautbart dann, die beiden Caravelle-Piloten hätten die Nationalität der vier Militärmaschinen nicht erkannt. Diese seien berechtigt gewesen, in dem betreffenden Luftraum zu operieren, teilt ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums mit. Alle beteiligten Piloten hätten zudem in der kritischen Situation korrekt reagiert. Die Bundesanstalt für Flugsicherung bleibt währenddessen bei der Feststellung, es habe sich um Flugzeuge der Luftwaffe gehandelt.

Mit dem Hinweis auf laufende Ermittlungen harrt das Geschehen zunächst einer Aufklärung. Derweil prescht die in Wien erscheinende „Arbeiter-Zeitung“ unter Bezugnahme auf informierte Kreise mit der Behauptung vor, Vorfälle wie der über Heidenheim seien an der Tagesordnung. Beim fliegenden Personal großer Luftfahrtgesellschaften bestehe der Eindruck, so das Organ der Sozialistischen Partei Österreichs, „dass Piloten der deutschen Bundeswehr nicht selten Verkehrsmaschinen als Manöverobjekte für Feindanflüge benutzen“. Die Fluggesellschaften hätten bislang Stillschweigen bewahrt, um die Passagiere nicht zu beunruhigen.

An Säule gekettet

Nicht verschweigen lässt sich ein Zwischenfall im Heidenheimer Waldbad. Der Pächter der dortigen Gaststätte erwischt einen Achtjährigen beim Versuch, einen Kaugummi mitgehen zu lassen. Anstatt ihm eine nach Ansicht des lokalen Berichterstatters „verdiente Maulschelle“ zu verpassen, kettet der Gastronom den Buben an eine Säule.

Eine eilends zu Papier gebrachte Notiz klärt die Öffentlichkeit über den Grund für das ungewöhnliche Vorgehen auf: „Der hier hat bei mir gestohlen.“ Nicht jedem gefällt das, deshalb verständigen Badegäste den Bademeister. Der befreit das Kind aus seiner misslichen Lage, gibt ihm aber einen Denkzettel mit auf den Weg: Wegen versuchten Diebstahls erhält der Achtjährige ein vorübergehendes Badeverbot.

Warum ausgerechnet 60 Jahre zurück?

Im Dezember 2008 war der Lokschuppen Schauplatz eines Festabends, bei dem eine seit 60 Jahren bestehende freie und unabhängige Presse in Heidenheim im Mittelpunkt stand. Damals mischten sich Aus- und Rückblicke. Unter anderem wurde die Idee geboren, regelmäßig in Erinnerung zu rufen, worüber die HZ jeweils 60 Jahre zuvor berichtet hatte. Die Serie startete mit der Rückschau auf 1949. Mittlerweile gilt das Augenmerk dem Jahr 1965.

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