Interview

Was hat Corona mit unseren Kindern gemacht? Der Heidenheimer Psychotherapeut Thomas Göser gibt Antworten

Keine Kita, keine Kontakte, kein Kino: Der Heidenheimer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Thomas Göser spricht über die Auswirkungen der Corona-Pandemie – und erklärt, warum speziell Ängste, Depressionen und Zwangserkrankungen zugenommen haben.

Schulen und Kitas wurden geschlossen, Spielplätze waren zu meiden, Freunde waren tabu: Im März 2020 wurde im Zuge der Corona-Pandemie der erste Lockdown ausgerufen, im Dezember 2020 folgte der zweite. Das öffentliche Leben stand still. Kinder und Jugendliche hat diese Zeit hart getroffen. Die Auswirkungen spürt der Heidenheimer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Thomas Göser tagtäglich in seiner Praxis. Im Interview spricht er über seelische Störungsbilder von Kindern, über verloren gegangene Entwicklungsmöglichkeiten, fehlende Therapieplätze – und die Macht der sozialen Medien.

Herr Göser, wie geht es unseren Kindern?

Unsere Kinder strengen sich an, sie machen mit und hängen sich rein. Kinder haben ganz viele Fähigkeiten und Ressourcen, um sich an verschiedene Situationen anzupassen. Zum Glück.

Fünf Jahre ist es her, dass in Deutschland der erste Lockdown ausgerufen wurde. Schule zu, Kita zu, kein Spielen, keine Freunde: Neben allem gesundheitlichen Bangen und großer Ungewissheit war die Zeit mit enormen Einschnitten verbunden - auch und insbesondere für Kinder.

Corona war eine große Erschütterung, die die Familien unterschiedlich stark getroffen hat und die auch definitiv Spuren bei einigen Kindern hinterlassen hat. Das sehe ich hier in meinem Alltag als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Die Möglichkeit, in Interaktion zu treten, war sicherlich ein großer Verlust. Der soziale Erlebnisraum war deutlich eingeschränkt. Den Preis dafür zahlen wir teils noch heute.

Was erleben Sie in Ihrem Alltag?

Ich sehe mehr Kinder und Jugendliche mit seelischen Auffälligkeiten und Störungen. Natürlich sind die nicht alle ausschließlich auf Corona zurückzuzuführen, aber die Pandemie hat mit dazu beigetragen.

Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche während der Schulschließungen zu 75 Prozent häufiger Depressionssymptome aufwiesen als vor der Pandemie. Eine heftige Zahl.

Der Anstieg war zu Pandemiezeiten enorm. Er ist inzwischen wieder etwas zurückgegangen, wir sind aber noch immer nicht auf dem vorpandemischen Niveau. Corona war ein wahnsinnig großer Stressor. Kinder und Jugendliche durchlaufen in ihrem Leben immer wieder Entwicklungsschritte, in denen die Anfälligkeiten für seelische Probleme erhöht sind. Das Jugendalter gilt dabei als eine besonders problematische Phase. Da ist eine solche Pandemie ein einschneidendes Erlebnis, das noch mehr triggern und animieren kann.

Mit welchen Krankheitsbildern kommen die Kinder zu Ihnen? Was ist auffällig?

Es gibt deutliche Anstiege im Bereich der Angststörungen. Ebenso haben die zwanghaften Krankheiten, die ja meist eine Art weiterentwickelte Angststörung sind, zugenommen und alles, was in den Selbstbild- und Selbstwertbereich hineingehört. Viele meiner Patienten werden überrollt von ihren Ängsten und Zweifeln, fühlen sich schutzlos ausgeliefert. Dazu gehört auch die Schulangst, die manche Kinder entwickeln. Manchmal hilft es in diesem Bereich, wenn man sehr frühzeitig Hilfe sucht, weil sich die Ängste noch nicht manifestiert haben.

Wie erklärt sich das mit den Zwängen?

Zwänge sind immer eine Art konstruierte Kontrollierbarkeit. Zwänge sind eigentlich dysfunktionale Strategien, die dem Betroffenen seine Ängste nehmen sollen und vermeintliche Sicherheit geben. Man macht die Erfahrung, selbst auf etwas Einfluss nehmen zu können.

Man könnte also sagen, in der unkontrollierbaren Corona-Zeit haben sich manche Kinder mittels Zwängen Kontrolle verschafft?

Das ist eine mögliche Erklärung, ja.

Auch Essstörungen hatten zugenommen. Zu Pandemiezeiten zeigte sich ein Anstieg um 50 Prozent.

Das ist bei mir so nicht angekommen, aber bundesweit ist das deutlich ein Thema. Und erklären lässt es sich sicher ebenso ein Stück weit über den Zwang, die Nahrung und seinen Körper zu kontrollieren. Aber auch die intensivere Nutzung der digitalen Medien, insbesondere des Social-Media-Bereichs, spielen hier sicherlich eine sehr bedeutende Rolle.

Auch bei den kleineren Kindern scheint Corona Spuren hinterlassen zu haben. Die Corona-Kita-Studie zeigt teilweise erheblich gestiegenen Förderbedarf. Im Fokus stehen Sprache, Motorik und die sozial-emotionale Entwicklung. Warum?

Ich verfasse fachärztliche Stellungnahmen für spezielle Förderungen und sehe diese Auffälligkeiten im Kita-Bereich, ja. Inwiefern das nun mit Corona oder mit anderen Umständen in Zusammenhang gebracht werden kann, weiß ich nicht. Fakt ist: Kinder müssen auch außerhalb des Elternhauses Sozialisationsschritte durchlaufen. Sie müssen lernen, Kontakte zu knüpfen, soziale Kompetenzen zu erwerben, sich zu arrangieren. Das war während Corona deutlich eingeschränkt und kann den gestiegenen Förderbedarf in diesen Bereichen sicherlich mit erklären.

Lassen Sie uns Erklärungsansätze suchen. Was haben die Corona-Einschnitte gemacht, dass sich die seelische Lage der Kinder und Jugendlichen derart verschlechtern konnte?

Kinder und Jugendliche brauchen den Raum, sich auszuprobieren, herauszufinden, wer sie selbst sind und gleichzeitig brauchen sie den Halt aus dem Elternhaus. Wenn die Möglichkeiten, sich auszutesten nicht da sind und auf der anderen Seite die Eltern selbst verunsichert sind durch gesundheitliche oder finanzielle Sorgen, kann da einiges ins Wanken kommen. Im Jugendalter gewinnen die Gleichaltrigen sehr stark an Bedeutung – in der Gruppe wird die Identität geformt, wo stehe ich, wo gehöre ich hin, wie will ich gesehen werden. Das muss und will in Räumen außerhalb des Elternhauses erprobt werden. Von daher: Die Einschnitte auf den Entwicklungsprozess waren enorm.

In sozialer Isolation sind viele Kinder und Jugendliche im Medienkonsum versunken.

Ganz klar. Das ist ein großer Themenkomplex und hier sehe ich auch weiterhin viele Gefahren. Das betrachte ich mit großer Sorge. Ich habe in meiner Praxis Patienten, die durchschnittlich sechs bis acht Stunden am Tag in sozialen Medien verbringen. Da sind in der Pandemie in den Familien immer mehr Prinzipien aufgeweicht und Zugeständnisse gemacht worden – und das blieb oft Status quo. Da leben wir heute in einer Art neuen Normalität.

Was passiert da in einem Teenie-Kopf?

Wer so viel Zeit in einer digitalen Parallelwelt verbringt, bekommt einfach falsche Leitplanken gesetzt. Wobei ich sagen muss, dass Kinder und Jugendliche wirklich anfangen, das auch kritischer zu sehen. Aber wenn man sich die letzten fünf Jahre anschaut, ist da wahnsinnig viel in die falsche Richtung gelaufen. Die sozialen Medien haben meist Bezug zur Lebenswirklichkeit der jungen Menschen, die konsumierten Inhalte sind fast immer direkt oder indirekt auf das eigene Individuum bezogen, es geht um Bewertung und um den sozialen Vergleich. Das macht was mit einem, wenn man quasi rund um die Uhr kommentiert und bewertet werden kann. Die Rückkopplung zu einem selbst ist so gefährlich. Ein Beispiel aus der Praxis, an dem diese ungleiche Entwicklung deutlich wird: Ich habe nicht wenige Kinder und Jugendliche in der Praxis, die selbstsicher in sozialen Medien agieren, aber sich niemanden anzurufen oder anzusprechen trauen. Da entsteht eine unheimliche Schere.

Es ist bittere Realität: Wer psychologische Hilfe braucht, bekommt diese nicht immer. Therapieplätze sind rar, die Wartelisten lang.

Ja, die Versorgungslage ist dramatisch. Sie war schon vor der Pandemie alles andere als glücklich, aber es hat sich weiter verschärft. Das spüre ich auch hier in Heidenheim. Ich hatte zeitweise eine Warteliste im dreistelligen Bereich – und hatte sie dann zwischenzeitlich auch geschlossen, einfach, weil ich es nicht mehr tragbar fand. Auf einen Therapieplatz muss man bei mir teils ein Jahr oder länger warten. Ich weiß nicht genau, wie es bei anderen Kollegen ist, aber ich schätze, nicht wesentlich anders. Unser Berufsverband hatte zu Beginn der Pandemie eine Zunahme der Anfragen um 40 Prozent verzeichnet. Was man mit in die Waagschale werfen muss, sind die sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunden: Hier können wir relativ zügig eine erste Orientierung und Beratung leisten. Manchmal kann das schon ein ganzes Stück weit helfen, manchmal ist es frustrierend, weil man dringend einen Therapieplatz bräuchte und keinen frei hat.

Es gibt immer wieder Rufe nach einer besseren ambulanten Versorgung. Schall und Rauch oder tut sich was?

Im Koalitionsvertrag der Ampel war eigentlich eine bessere ambulante Versorgung festgeschrieben. Passiert ist da leider nicht viel. Man hätte in dieser besonders schwierigen Zeit sicher über Sonderzulassungen für weitere Kollegen und Kolleginnen nachdenken können und müssen. Der Staat hätte auch während der Pandemie mehr in die Wege leiten können, psychologische Beratungen direkt an den Schulen anzubieten zum Beispiel.

Ihre persönliche Meinung: Waren die Restriktionen im Rückblick überzogen?

Im Rückblick muss ich sagen: einige ja. Die Schulschließungen zum Beispiel waren definitiv zu lange. Übrigens hatte Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich mehr Schließungstage. Und die Politik hat hier ja auch bereits einiges eingeräumt. Unterm Strich muss man sagen: Kinder haben einfach keine Lobby. Auch das hat Corona wieder gezeigt.

Warnsignale und Hilfsangebote

Laut dem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Thomas Göser gibt es klare Warnsignale für seelische Probleme und Nöte. Da sind zunächst die medizinischen Auffälligkeiten: kritischer Gewichtsverlust bei Essstörungen zum Beispiel, Wunden bei selbstverletzendem Verhalten. Auch suizidale Aussagen sind immer sensibel zu behandeln, so Thomas Göser. Doch es gibt auch Situationen, die nicht leicht einzuordnen sind. Thomas Göser rät, Hilfe zu suchen, wenn sich ein Kind verändert, sich zunehmend zurückzieht, der Alltag in Schieflage gerät oder nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Thomas Göser: „Meistens kann man da sehr gut auf sein Bauchgefühl hören. Eltern oder Vertrauenspersonen, Lehrer oder Sozialarbeiter spüren ganz gut, wenn etwas nicht stimmt.“

Erste Anlaufstellen für Hilfe können Kinder- oder Hausärzte, Lehrer, Schulsozialarbeiter, Beratungsstellen und auch die niedergelassenen Psychotherapeuten sein. Bei sehr kritischen seelischen Zuständen sind in Akutsituationen die Kinder- und Jugendpsychiatrien zuständig, für den Heidenheimer Landkreis ist das die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ellwangen. Dort gibt es auch eine vorgelagerte psychiatrische Institutsambulanz, an die man sich wenden kann. Zudem gibt es beim Jugendamt verschiedene Ansprechpartner und Hilfen.

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