Mutterliebe. Das ist ein Begriff, der eigentlich positive Assoziation weckt. An Schmerz und Trauer denkt man nicht, wenn man das Wort hört. Doch genau das waren die dominierenden Themen beim Konzert der Opernfestspiele Heidenheim in der Pauluskirche unter dem Titel „Mutterliebe“. Zur Aufführung kamen zwei Werke mit Bezug auf das mittelalterliche „Stabat Mater“-Gedicht. Und dessen Text macht schnell klar, wie Mutterliebe und Trauer zusammenhängen können: In der deutschen Übersetzung von Heinrich Bone beginnt er mit „Christi Mutter stand mit Schmerzen/ bei dem Kreuz und weint von Herzen/ als ihr lieber Sohn da hing.“
Seit dem 15. Jahrhundert wird das lateinische Gedicht gerne und oft von Komponisten vertont, und dieser Trend hält auch heute noch an: Das erste „Stabat Mater“, das an diesem Abend aufgeführt wurde, wurde 2017 von Petr Fiala geschrieben. Der Komponist und Dirigent ist auch Gründer des Tschechischen Philharmonischen Chores Brünn, der seit 2015 künstlerischer Partner der Opernfestspiele Heidenheim ist. Bei seinem Auftritt in Heidenheim stand der Chor zusammen mit der Cappella Aquileia unter der Leitung von Markus Bosch.
Alte Worte mit neuer Musik
Die Entscheidung, Fialas Werk zuerst auszuführen, war sicher die richtige, weil es mit seinen teils überraschenden Wendungen und ungewöhnlichen Klangfarben nach einem wachen Publikum verlangte. Der erste Satz zum Beispiel stach gleich durch waberndes Glockengeläut hervor, welches eine fast schon unheimliche Atmosphäre aufbaute. Dieser Eindruck ging auch mit Einsatz des Chors nicht ganz verloren und lebte wieder auf, als die letzten Worte des Chors weniger gesungen als vielstimmig geflüstert wurden.
Im zweiten Satz bekam dann die Bratsche von Solistin Kristina Fialová den nötigen Raum, um zu glänzen, vor allem, wenn sie ohne das Orchester zu hören war. Auch im dritten Satz, der nur vom Chor und der Bratsche bestritten wurde, hatte letztere eine wichtige Rolle. Sie schien mit ihren Einwürfen den Chor immer wieder einzufangen, wenn dieser besonders laut wurde.
Laut wurde es auch im vierten Satz, der mit dem vollen Einsatz der Pauken begann; für manche Zuhörer, die mit den Perkussionsinstrumenten im Seitenschiff saßen, wurde es stellenweise unangenehm. Der Chorgesang durchlief derweil ganz unterschiedliche Lautstärken und beschwor beizeiten fast schon ein Bild des Zornes – diese Emotion findet man nur in wenigen „Stabat Mater“-Vertonungen.
Auch der fünfte und letzte Satz begann lärmend, wurde später vom Chor eingefangen und zu einem mehrmals wiederholten Amen geführt. Den Schlusspunkt markierte das aber nicht, diese Rolle übernahm ein weiteres gefühlvolles Bratschensolo von Kristina Fialová.
Zweiter Teil mit Dvořák-Werk
Mit der Aufführung, die auch von Komponist Petr Fiala selbst beklatscht wurde, hatten Fialová, der Philharmonischen Chor Brünn und die Cappella Aquileia ihr jeweils sehr hohes technisches Niveau bewiesen, aber die meisten Zuhörer in der voll besetzten Pauluskirche waren wohl für das zweite, bekanntere Werk des Abends, nämlich Antonín Dvořáks Stabat Mater (op. 58) angereist.
Dessen erster Satz hatte gleich so einiges zu bieten: Streicher und Blechbläser, die sich zu einem mittellauten Crescendo aufbauten, die vom Chor sehr eindrücklich gesungenen Worte „Stabat Mater Dolorosa“ und den ersten Auftritt aller Solisten des Abends, also Julia Danz (Sopran), Marie-Luise Dreßen (Alt), Lukas Siebert (Tenor) und Gerrit Illenberger (Bass). Die Klangvielfalt schwoll mal an, mal nahm sie ab, wie Meereswogen oder wie der Schmerz einer Person, die einen geliebten Menschen verloren hat.
Die Solisten und das Orchester erreichten auch ohne Chor im zweiten Satz einen vollen Klang. Der Chor sang den dritten Satz, der beizeiten an einen Trauermarsch oder an schmerzerfüllte Ausrufe erinnerte. Der viere Satz zeichnete sich als erster des Abends mit einer stellenweise waren Klangfarbe aus, was vor allem der Mitten im Satz einsetzenden Orgel der Pauluskirche zu verdanken war.
Ausreichend Abwechslung über den Abend
Einen unerwarteten Effekt hatte auch der fünfte Satz mit seinen Tempo- und Tonhöhenwechseln, die ihn beinahe lebhaft erscheinen ließen. Besonders eindringlich war der sechste Satz, in dem der Tenorsolist als Vorsänger agierte und Tenor und Bass des Chors die Worte wiederholten.
Im siebten Satz gab sich der Chor einer Marienverehrung in hohen Tönen hin, die fast schon an mittelalterliche Kirchengesänge erinnerte. Ihr Talent für die Kontrolle von hohen und langen Noten konnte Julia Danz im achten Satz zeigen, als Sopran und Alt ein Duett sangen. Wenig später, im neunten Satz bekam Marie-Luise Dreßen die Gelegenheit für ein Solo, welches ruhig gesungen auch beruhigend auf die Zuhörer wirkte.
Für den zehnten und letzten Satz vereinten sich noch einmal alle Kräfte, um einen musikalischen Bogen um das Stück zu spannen. Der gleichzeitige Einsatz aller Stimmen fesselt die Zuhörer an die Musiker und ihre Musik; aus diesem Bann wurden sie erst mit dem furiosen „Amen“ des Chores entlassen, nach welchem das Stück instrumental verklang.
Das Endergebnis war ein lauter und kaum enden wollender Applaus des Publikums. Und nur wenige Gesichter, ob von Dirigent, Orchester- und Chormitgliedern oder Zuhörern, blieben in diesem gelösten Moment ohne Lächeln. Keine Spur mehr war von der Trauer und Schmerz des Stückes zu spüren – aber auch Freude ist ja bekanntlich ein Aspekt der Mutterliebe.