Wettschulden sind Ehrenschulden. Deshalb ist Andreas Stoch, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, vergangene Woche medienwirksam von Heidenheim nach Ulm marschiert. Barfuß. Einen langen Atem wird er auch in den Monaten bis zur Landtagswahl am 8. März kommenden Jahres brauchen. Bei einem Besuch in der HZ-Redaktion spricht er über Themensetzung, Probleme und Ziele.
Herr Stoch, was machen Ihre Fußsohlen?
Denen geht es überraschend gut. So eine Belastung ist natürlich sehr ungewohnt für unsere verzärtelten Füße, und ich habe unterwegs schon gemerkt, dass die Knochen strapaziert sind. Ein Fuß ist auch jetzt noch leicht angeschwollen, aber das ist alles erträglich. Am ersten Tag war es zwar kalt und nass, da bin ich über die Wiesen marschiert, wo es sehr weich war. Aber zwischendrin mussten wir auf Asphalt oder auf Kieswegen laufen. Ich war dann schon froh, als ich in Ulm angekommen war, denn 46 Kilometer sind ja auch mit Schuhen nicht ganz wenig.
Gab’s Stolperfallen?
Ich habe konzentriert geschaut, wo ich hintrete. Trotzdem kann man eine Glasscherbe oder Hundekot erwischen. Ich habe riesiges Glück gehabt und konnte allen Tretminen ausweichen.
Noch etwas Erholung täte jetzt sicher gut, aber Ihr Terminkalender ist ziemlich voll, wie man Ihrer Homepage entnehmen kann. Machen Sie keinen Urlaub?
Obwohl der Landtagswahlkampf schon seine Schatten vorauswirft, werde ich mit meiner Frau zwei Wochen nach Griechenland gehen. Darauf freue ich mich sehr, denn das Hamsterrad dreht sich sehr intensiv. Jetzt auf der Sommertour bin ich fast drei Wochen im ganzen Land unterwegs.
Ich höre heraus: Sie gehen nicht wandern.
Nein, diesmal nicht.
Was bedeutet die Sommertour für Sie? Selbstdarstellung? Kontaktpflege? Informationsbörse?
Ein wichtiger Aspekt ist es, über Redaktionsbesuche wie bei Ihnen in der Heidenheimer Zeitung eine größere Zahl von Leserinnen und Lesern mit meinen politischen Botschaften zu erreichen. Aber ich versuche auch Dinge zu tun, die über die übliche politische Arbeit hinausgehen. Ich gehe zum Beispiel in Unternehmen oder drehe wie unlängst mit dem Fahrrad eine Runde durch Heidelberg, wo neuralgische Verkehrsthemen angesprochen wurden. Man kann das niederschwellig machen, um mit möglichst vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. Das sind wichtige Informationsquellen.
Von der Strecke her war der Marsch nach Ulm ein Marathon. In politischen Dimensionen betrachtet, scheint die Zeit bis zur Landtagswahl dagegen eher der Mittelstrecke zuzurechnen. Haben Sie sich schon warmgelaufen?
In meiner Rolle als Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer im Stuttgarter Landtag bin ich natürlich immer ein Stück weit im Angriffsmodus. Aber mir ist es wichtig, nicht nur blind draufzuschlagen, sondern mit eigenen Vorschlägen die Landesregierung unter Druck zu setzen. Ich fordere sie auf, endlich ins Handeln zu kommen, nicht nur ins Reden und Wünschen. Die sechs Monate Landtagswahlkampf bis zum 8. März 2026 werden sehr intensiv.
Mit vielen Gesprächen.
Genau. Ich erinnere mich mit Schrecken fünf Jahre zurück. Da haben wir Wahlkampf während Corona gemacht, mit all den Beschränkungen. Das hat sich furchtbar angefühlt, weil es schwierig ist, mit Menschen über Politik zu reden, wenn du ihnen nicht begegnen kannst.
Welche Themen werden die Wahl entscheiden?
Ich habe seit eineinhalb Jahren eine Zukunftstour durch das Land gemacht, weil mir dieses ständige Untergangsgerede auf den Keks ging. Es sind gerade sehr schwierige Rahmenbedingungen für uns als Exportland Baden-Württemberg: Energiekosten, Ukraine-Krieg, Zoll-Drohungen durch Trump. Trotzdem sind wir meiner Meinung nach immer noch sehr stark. Was uns immer stark gemacht hat - der Fleiß der Menschen, Kreativität, Erfindungsreichtum -, das alles kann doch nicht vom einen Tag auf den anderen weg sein. Deshalb wollte ich sehen, wo Menschen ganz konkret an der Zukunft unseres Landes arbeiten. Das wird im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen: Wie schaffen wir es, in Baden-Württemberg wirtschaftsstark zu bleiben und dabei vor allem industrielle Strukturen zu erhalten? Davon sind wir hier im Kreis Heidenheim besonders betroffen.
Es steht die Forderung im Raum, länger zu arbeiten.
Das klingt doch, als seien nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der derzeitigen Wachstumsschwäche schuld. Für mich ist das respektlos gegenüber allen, die jeden Tag hart arbeiten und damit ihre Familien ernähren. Wir müssen zusammen mit Betriebsräten und Gewerkschaften versuchen, die Unternehmensleitungen dazu zu bringen, nicht jetzt, in einer schwierigen Situation, Arbeitsplätze zu verlagern, sondern gemeinsam mit den Beschäftigten durch diese Zeiten zu kommen. Denn sie waren das Kapital der vergangenen Jahrzehnte und haben Rekordgewinne erwirtschaftet. Denken Sie an Voith Hydro. Da gibt es die Frage, ob Arbeitsplätze im Bereich der Wasserkraft nach Österreich verlagert werden. Allen muss bewusst sein, dass Baden-Württemberg ein anderes Land wäre, wenn wir nicht diese industriellen Strukturen hätten.
Die von der Bundesregierung angekündigte Investitionsoffensive …
… überzeugt Unternehmen hoffentlich davon, ihre Arbeitsplätze und Strukturen wie eben angesprochen im Land zu belassen. Bessere Rahmenbedingungen werden wieder zu mehr Vertrauen in den Standort Deutschland führen. Wenn ich das Vertrauen verliere, dann investiere ich nicht mehr.
Angesichts der Umfragewerte dürften Sie als Spitzenkandidat keine Chance auf das Amt des Ministerpräsidenten haben. Die CDU liegt mit Manuel Hagel zu weit vor der SPD, auch vor den Grünen mit Cem Özdemir. Wie lautet Ihr Ziel?
Natürlich sind die Umfragewerte gerade nicht motivierend. Wir haben in Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren links der politischen Mitte Stimmen an die Grünen verloren. Und wir haben als SPD insgesamt immer noch den Mühlstein der Ampelkoalition mit ihrem Negativimage um den Hals. Gegen so eine Stimmungslage tut man sich dann auch auf Landesebene schwer, draufzupacken. Ja, es ist eher unwahrscheinlich, dass ich Ministerpräsident werde. Mein Anspruch ist es, dass die SPD so stark wird, dass wir in der Lage sind, mit einer anderen demokratischen Partei zusammen eine Regierung zu bilden.
Das Ziel heißt also Regierungsverantwortung?
Ja, klar. Wir sind während Corona mit elf Prozent rausgelaufen. Da hatten wir im Bund gerade mal 14 Prozent. Ein halbes Jahr später wurde Olaf Scholz zum Kanzler gewählt.
Auf Bundesebene spielt die FDP derzeit keine Rolle. Können Sie sich im Land eine Zusammenarbeit vorstellen, beispielsweise in einer Deutschlandkoalition mit der CDU?
Man darf in diesen Zeiten im demokratischen Spektrum nichts ausschließen. Aber das teilweise sehr populistische Auftreten der FDP motiviert mich nicht gerade, mit ihr zusammen regieren zu wollen. Deshalb sagte ich ja ganz bewusst, ich will stark genug werden, um mit einer weiteren Partei regieren zu können. Eine Deutschlandkoalition sehe ich im Moment nicht. Ohnehin muss die FDP zusehen, dass sie überhaupt in den Landtag kommt. Sie wirbt ja für das Volksbegehren für einen kleineren Landtag. Da kann ich allen Wählerinnen und Wählern nur empfehlen: Je weniger kleinere Parteien in den Landtag kommen, desto kleiner wird er am Ende sein.
Wahlkämpfe laufen selten ohne Störgeräusche ab. Zwei davon dürften Ihnen gerade in den Ohren klingen. Erstens: Daniel Born hat bei einer geheimen Wahl hinter den Namen eines AfD-Kandidaten ein Hakenkreuz gesetzt. Er ist dann als Landtagsvizepräsident zurückgetreten und hat die SPD-Fraktion verlassen. Diese Causa hätten Sie sicher gern vom Tisch.
Zunächst einmal hätte ich mir diese Causa gar nicht vorstellen können. Daniel Born war ein äußerst geschätzter Kollege in der Fraktion und in der Partei. Er hat einen verhängnisvollen und schweren Fehler begangen. Dass er sich und der SPD damit geschadet hat, weiß er selbst. Es ist löblich, dass er sehr schnell Konsequenzen gezogen hat. Er hat mir gesagt, dass er nicht weiß, was ihn geritten hat. Offensichtlich war es ein Blackout. Trotzdem muss man die Verhältnismäßigkeit wahren. Es ist über Jahre für unsere Demokratie eingetreten. Und mit diesem Hakenkreuz wollte er ganz sicher nicht zum Ausdruck bringen, dass er sich mit der damit verbundenen Ideologie identifiziert. Ganz im Gegenteil. Deswegen war meiner Meinung nach die öffentliche und mediale Reaktion schon brutal, weil man da einen Menschen komplett ins Off geschossen hat.
Sollte er auf sein Mandat verzichten?
Ich habe ihm gesagt: Überleg‘ dir gut, ob du es behalten willst, denn es wird wie ein Spießrutenlaufen für dich. Die Sommerpause bietet jetzt die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Aus menschlicher Sicht tut mir dieses Ereignis sehr leid, denn ich schätze ihn immer noch.
Bleibt eine Belastung für die SPD zurück?
So etwas belastet alle. Das Parlament und diejenigen, die wie auch Daniel Born für die Demokratie eintreten und gegen Rechtsradikale kämpfen. Wir wissen jetzt, dass der Auslöser ein menschliches Versagen war, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Jetzt müssen wir die Konsequenzen daraus ziehen und nach vorne schauen.
Zweitens: 20 Jahre lang waren 1440 Lehrerstellen im Land unbesetzt. Das hat schon zu Ihrer Amtszeit als Kultusminister offenbar niemand bemerkt, deshalb können Sie es im Wahlkampf auch nicht der aktuellen Kultusministerin Theresa Schopper in die Schuhe schieben. Ärgerlich, oder?
Bei dieser Sache geht es nicht um Wahlkampf und auch nicht darum, jemandem etwas in die Schuhe zu schieben. Es geht darum, dass über 1400 Lehrerinnen und Lehrer fehlen, um Kinder gut zu unterrichten. Ministerin Schopper trägt wohl keine Verantwortung dafür, dass dieser Fehler einst begangen wurde. Sie hat aber die Verantwortung, jetzt die Folgen dieses Fehlers zu mildern und Lehrkräfte an die Schulen zu holen.
Was lief denn eigentlich schief?
Man hört immer von diesem Eingabefehler bei einer Softwareumstellung im Jahr 2005, belegt ist das aber noch nicht. Und klar ist auch, dass dieser Fehler sich über die Jahre anstaute. Vor einem Jahrzehnt mag er deutlich kleiner gewesen sein. Und als ich Minister war, suchten wir auch nicht verzweifelt nach Lehrkräften. Im Gegenteil: Ich musste mich damals noch gegen Abbaupläne wehren, Ministerpräsident Kretschmann wollte mir damals immer vorrechnen, wir hätten Tausende Lehrkräfte zu viel.
Aber eine Erklärung muss her, denn so etwas darf sich ja nicht wiederholen.
Ein solcher Fehler hat nicht nur einen einzigen Grund – und in der Tat läuft ein Kultusminister nicht durchs Land und zählt in 4500 Schulen eigenhändig die Lehrkräfte nach. Da haben wir zum Beispiel eine inzwischen völlig veraltete Software, da fehlten Kontrollmechanismen zwischen Kultusministerium, Finanzministerium und dem Landesamt für Besoldung und Versorgung, erst recht, als es eben nicht mehr um 50 oder 100, sondern um fast 1500 Geisterlehrkräfte ging. Das muss man aufklären – und dann bitte besser machen.
In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert momentan die Bundespolitik. Ist das aus landespolitischer Sicht ein Vor- oder ein Nachteil?
Es ist ein Nachteil, ein Stück weit aber auch das Schicksal der Landespolitik. Viele Menschen nehmen sie nicht so sehr als eigene politische Ebene wahr. Man erreicht medial mehr Menschen mit Bundespolitik. Das ist schade, denn wir müssen ja im kommenden März entscheiden, wer Baden-Württemberg in den nächsten Jahren regieren soll. Es wird deshalb im Wahlkampf sehr wichtig sein, klarzumachen, welche wichtigen Themen das Land zu bearbeiten hat.
Welche sind das?
Zum Beispiel die Bildung. Aufgrund des demografischen Wandels brauchen wir in den nächsten Jahren jeden Lehrer und jede Lehrerin, die wir bekommen können. Aber die Landesregierung stellt gerade viele gut ausgebildete Gymnasialreferendare nicht ein. Oder bezahlbarer Wohnraum. Baden-Württemberg hat hier den größten Mangel. Über die nötige Förderung in diesem Bereich wird in Stuttgart entschieden, nicht in Berlin. Die Landesregierung hat bisher auch noch keinen Plan vorgelegt, wie das Geld aus dem Investitionspaket eingesetzt werden soll.
Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Stadt Heidenheim werfen. Sie kämpft auf vielen Ebenen darum, den Anschluss an andere Kommunen nicht zu verlieren. Wo sehen Sie den größten Gestaltungsbedarf, und wie können Sie von Stuttgart aus helfen?
Heidenheim ist stark von der Industrie geprägt. Die Unternehmen brauchen Vertrauen in diesen Standort, dann bleiben sie auch hier. Außerdem sind die Immobilien- und Mietpreise deutlich gestiegen. Ich bin deshalb sehr froh, dass es die Kreisbau als funktionierende kommunale Wohnungsbaugesellschaft gibt. Sie ist aber für den Kreis zuständig. Deshalb müssen wir mit Blick auf die Stadt Heidenheim schauen, wo wir bezahlbaren Wohnraum schaffen. Das heißt: Nicht nur in Einfamilienhaussiedlungen denken. Und ich fordere ich schon lange, dass wir mehr in frühkindliche Bildung investieren. Der Mangel an Kitaplätzen ist hier nicht so groß, entscheidend ist die Frage, ob es genügend Personal gibt.
Sehen wir Heidenheimer uns kritischer, als es andere im Land tun?
Die Leute, die beispielweise wegen des Fußballs oder der Oper schon mal hier waren, wissen Heidenheim zu schätzen. Wir selber, und da haben Sie recht, sehen unsere eigene Umgebung hingegen manchmal zu kritisch, weil wir alle nach dem Motto erzogen sind: Net gschimpft isch globt gnuag. Ein Ostwürttemberger würde nicht auf die Idee kommen, wie der Amerikaner morgens nach dem Aufstehen zu sagen: Heute ist der schönste Tag meines Lebens. Aber ich würde mir manchmal mehr Zuversicht und Besinnung auf die eigenen Stärken wünschen.
Zur Person
Andreas Stoch (55) gehört dem baden-württembergischen Landtag seit April 2009 an. An der Spitze der SPD-Fraktion steht er seit Mai 2016, zwei Jahre später wurde er zum Landesvorsitzenden seiner Partei gewählt. Zwischen Januar 2013 und Mai 2016 hatte er das Amt des Kultusministers inne. Geboren wurde der 55-Jährige in Heidenheim.