Der Ami kommt an einem Dienstag. Er hat einen dunklen Teint, trägt Stahlhelm und Kampfuniform. Und er scheint unablässig zu vespern. Erstaunlicherweise schiebt er aber gar nichts in seinen Mund. Rolf Geiger schaut mit großen Augen zu dem Mann auf. Von einem Kaugummi hat der Neunjährige noch nie etwas gehört. Und überhaupt: So sieht also der Feind aus? Er war doch immer ganz anders beschrieben worden. Gar nicht so wie dieser Soldat, der wohl ganz nett ist und sogar lustige Grimassen schneidet.
Nur in einer Hinsicht versteht Geigers „erster Ami“ keinen Spaß: Niemand darf den Luftschutzstollen im Heidenheimer Schlossberg verlassen, vor dem er sich aufgebaut hat. Und so bleibt dem neugierigen Jungen nur der eingeschränkte Blick nach draußen. Er sieht: Dort herrscht Chaos. Jenseits des Eugen-Jaekle-Platzes stehen die beiden Häuser des Bekleidungsgeschäfts Haux in Flammen. Das Bild brennt sich in Geigers Gedächtnis ein, ohne dass sein kindlicher Verstand bereits die Bedeutung des Geschehens zu ermessen vermag: In Heidenheim ist der Zweite Weltkrieg vorbei.
Beide Haux-Gebäude am Eugen-Jaekle-Platz brennen nieder
Erst viel später wird Geiger die historische Dimension jenes 24. April 1945 verstehen, „denn ich konnte in meinem Alter natürlich nicht einschätzen, was das alles bedeutet“, sagt er 80 Jahre später. Schritt für Schritt, Minute für Minute erschließt sich ihm damals aber zumindest, dass etwas Bedeutsames vonstattengehen muss. Nachdem der GI eingeschlafen ist – müde vom Schnaps, den er getrunken hat –, wagt sich Geiger ins Freie und erkennt das ganze Ausmaß der nächtlichen Aufregung: Von den beiden Gebäuden stehen nur noch Skelette.
Ein Löschversuch der wenigen noch verbliebenen Feuerwehrleute erweist sich als untauglich. Weil das Wasser abgestellt ist, muss eine Leitung bis zur Brenz verlegt werden. Die Schläuche sind aber so alt und porös, dass es am Brandherd nur sachte aus den Rohren tropft. Neue Schläuche sind zwar vorhanden. Sie wurden aber aus Sicherheitsgründen ins Jahnhaus ausgelagert. Und das weiß nur der Feuerwehrkommandant. „Aber der war nicht ansprechbar, weil er die Enttäuschung über den verlorenen Krieg und die Niederlage des ,Führers´ nicht verkraftet und sich deshalb besoffen hatte“, erinnert sich Geiger.
Ich konnte in meinem Alter natürlich nicht einschätzen, was das alles bedeutet.
Rolf Geiger, Zeitzeuge
Dass etwas im Gange ist, hat der Neunjährige schon seit Längerem bemerkt, auch wenn er sich zunächst noch wie viele andere Buben auf seinen zehnten Geburtstag freut, weil ihm dann als sogenanntem Pimpf die Aufnahme in die Hitlerjugend winkt.
Geigers Vater betreibt am Eugen-Jaekle-Platz eine Konditorei. Auf dem Wohnzimmer-Büfett steht wie in vielen Haushalten eine Büste des „Führers“. Geiger ist auch Luftschutzwart. Vermutlich aufgrund einer unbedachten Äußerung über die Wehrmacht-Kommandantur wird er im Februar 1945 noch zum Kriegsdienst eingezogen und überträgt seinem Sohn Rolf deshalb die Aufgabe, den Schutzstollen aufzuschließen, sobald die Sirene auf einem der Haux-Häuser zu heulen beginnt. Den Jungen erfüllt es mit Stolz, nachts als Erster am Eingang zu sein und die Innenbeleuchtung einzuschalten.
Hitler-Büste außerhalb der Wohnung entsorgt
Nach und nach zeichnet sich dann ab, dass das „Tausendjährige Reich“ nur noch wenige Tage Bestand haben wird. Im Familienkreis fällt deshalb die Entscheidung, den Kupfer-Hitler vorsichtshalber in einer Senke am Schlossberg zu entsorgen. Was folgt, ist für Rolf Geiger weniger furchteinflößend als vielmehr spannend: Die Amerikaner kommen! Einige der US-Soldaten sprechen deutsch. Sie drehen mit den Kindern im Jeep Runden auf dem Jaekle-Platz. Verteilen Schokolade und Kaugummi, wenn sie sprachlich etwas ungelenk danach gefragt werden: „Häw ju Tschewengom?“
Erst die Geschichtsschreibung soll erklären, weshalb sich die Kampfhandlungen in und um Heidenheim in Grenzen halten, wenngleich in den letzten Kriegstagen durchaus erhebliche Schäden entstehen, etliche Menschen ihr Leben lassen. So stirbt bei einem Fliegerangriff der Landwirt Georg Holz auf seinem Anwesen an der Schnaitheimer Straße. Auf der Südseite des Siechenbergs erschießen Wehrmachtssoldaten wenige Stunden vor Übergabe der Stadt zwei russische Kriegsgefangene. Und am Eugen-Jaekle-Platz setzen US-Kampftruppen mit Phosphorgeschossen und Handgranaten besagte Haux-Häuser in Brand, nachdem sie aus diesen heraus von einem Zivilisten und einem Soldaten der Wehrmacht beschossen worden sind.
Paul Schwaderer übernimmt Amtsgeschäfte des Oberbürgermeisters
Mut, Besonnenheit und Glück tragen dazu bei, Heidenheim vor großflächigen Verheerungen zu bewahren. Schon am 20. April 1945 haben die Alliierten die Stadt fast vollständig eingekesselt. Oberbürgermeister Dr. Rudolf Meier, NSDAP-Mitglied und 1935 vom Reichsstatthalter ins Amt eingesetzt, überträgt daraufhin die Geschäfte an Stadtamtmann Paul Schwaderer, den dienstältesten Beamten im Rathaus.
Unterdessen formiert sich unter führenden Köpfen der in Heidenheim ansässigen Wirtschaftsbetriebe der Widerstand gegen sinnlose Widerstandshandlungen und den sogenannten Nero-Befehl. Er ordnet die Zerstörung von Industrie- und Infrastrukturanlagen an, um den Alliierten verbrannte Erde zu hinterlassen.
Voith-Chef Dr. Hanns Voith, Dr. Werner Plappert, Geschäftsführer der Zigarrenfabrik Schaefer, und Paul Schwaderer suchen also den Kampfkommandanten auf, um über das weitere Vorgehen zu sprechen. Der Major der Wehrmacht berät sich mit NSDAP-Kreisleiter Karl Kronmüller und Rudolf Meier, der alsbald die Beine in die Hand nimmt und sich aus dem Staub macht. Während das Schicksal „auf Messers Schneide stand“, wie Hanns Voith später zu Papier bringt, begibt sich auf sein Geheiß hin Schaefer-Prokurist Albert Ketterle auf den Galgenberg. Dort hat die Wehrmacht zwei Geschütze stationiert.
Ketterle – seine Schwester Anna ist Voiths Privatsekretärin – bittet den zuständigen Kommandeur, Leutnant Tönny, „nicht mehr zu schießen, da es doch keinen Sinn habe, einen Schuss abzugeben, wenn die Stadt dann zehn Schüsse herein bekomme, was er mir auch vertraulich zusagte“. So vermerkt es Ketterle in einem Bericht über die Geschehnisse.
Amerikaner fordern Übergabe der Stadt Heidenheim
Am Abend des 24. April machen sich Voith und Plappert gemeinsam mit dem Voith-Ingenieur Wilfred Mann und dem Kunstmaler Gustl Illenberger zu Fuß auf den Weg Richtung Zang. Sie wollen mit den dort vermuteten Amerikanern verhandeln. Diese sind allerdings nicht zu finden, schicken vielmehr von der Lehmstraße aus den englischsprechenden Voith-Auslandskorrespondenten Gottlieb Haspel mit einer Nachricht auf den Weg. Sie enthält eine ultimative Anweisung: Der Oberbürgermeister muss die Stadt bis 23.30 Uhr übergeben.
Die Dramatik lässt sich kaum noch steigern. Schwaderer ist nicht zu erreichen, weil die Klingel des Rathauses nicht funktioniert. Hanns Voith fährt daraufhin mit einem Pkw den Amerikanern entgegen, um zu versichern, Schwaderer werde gesucht. Das gelingt schließlich. Um 23.45 Uhr entsteigt der Interims-OB bei der WCM einem Wagen und übergibt die Stadt. Als kurz darauf der Zwischenfall bei den Haux-Häusern für große Aufregung sorgt, ist Voiths Verhandlungsgeschick nochmals gefragt. Mit Mühe kann er glaubhaft machen, dass es sich bei dem Vorfall um keinen Hinterhalt gehandelt hat.
Rolf Geiger: 8. Mai 1945 war Tag der Befreiung
1985 bezeichnet der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer viel beachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung. Auch Rolf Geiger, heute 89 Jahre alt, sieht das so, und verfolgt deshalb aufmerksam, wie sich die von Präsident Donald Trump geführten USA Stück für Stück von Europa und Deutschland entfernen: „Das macht mir schon Sorgen, auch wenn es mich weniger als die Jüngeren betrifft.“