In Deutschland gibt es noch immer über 100 Straßen, die nach Paul von Hindenburg benannt sind, in unserer Region unter anderem in Neresheim und Neu-Ulm. Bundesweit wurden bislang weniger als 20 umbenannt – teils nach heftigen Diskussionen. Die Gründe hierfür, einschließlich der Frage, ob es nötig sei, immer wieder dieses Thema aufzuwärmen, erläuterte der in Giengen aufgewachsene Historiker Wolfgang Niess in seinem spannenden Vortrag „Schicksalsjahr 1925 – als Hindenburg Präsident wurde“. Rund 40 Zuhörerinnen und Zuhörer verfolgten den Vortrag in der Stadtbibliothek am Mittwochabend.
Der Historiker spannte einen großen Bogen, gespickt mit historischen Nebensträngen, Verwicklungen, menschlichen Eitelkeiten und politischem Kalkül von verschiedensten Seiten. Er erklärte, warum der 1847 in der preußischen Provinz Posen geborene Adlige Paul von Hindenburg berühmt wurde, wie er 1925 zum Reichspräsidenten gewählt wurde und wie seine politischen Entscheidungen schließlich zur Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933 führten.
Wolfgang Niess und sein neues Hindenburg-Bild
In seinem kenntnisreichen und teils humorvollen Vortrag, gespickt mit Zitaten aus Briefen, Memoiren und historischen Berichten, zeichnete Niess das Bild eines Mannes, der als „Held von Tannenberg“ zum Nationalhelden avancierte. Niess belegte, dass die Oberste Heeresleitung damals schon um die geringe Mitwirkung Hindenburgs an dem Sieg 1914 Bescheid wusste, doch Hindenburg verstand sich als alleiniger „Retter Ostpreußens“ und inszenierte sich in den folgenden Jahren zum Nationalhelden und Liebling des Volkes. Nach ihm waren nicht nur der Zeppelin, Orte und Objekte, sondern auch Zigarren, Likör, Salat, Krawatten und vieles mehr benannt. Nicht nur Journalisten, sondern auch führende Wirtschaftsvertreter suchten seine Nähe.
Niess schilderte dies so: Hindenburg strebte nach Popularität, war aber auch erfüllt von einem tiefen protestantischen Glauben und dem Sendungsbewusstsein, das deutsche Volk einen und nach der Niederlage des Weltkrieges wieder zu alter Größe zurückführen zu wollen. Er intrigierte gegen die Sozialdemokratie und den Reichstag, löste diesen immer wieder auf und unterstützte die politische Rechte. Mit seinen antidemokratischen Entscheidungen, der Zementierung der „Dolchstoßlegende“, mit Notverordnungen und Präsidialregierungen schadete er nicht nur der jungen Weimarer Republik, sondern unterstützte entscheidend das Entstehen des Nationalsozialismus.
Hindenburgs Rolle im Nationalsozialismus
Als 85-jähriger, nur mit vielen Verwicklungen zum zweiten Mal wiedergewählter Reichspräsident ernannte er 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler. Hindenburg billigte bis zu seinem Tod 1934 die Errichtung von Konzentrationslagern in den Jahren 1933 und 1934 für politische Gegner der Nationalsozialisten und schaffte mit seinen Notverordnungen die demokratischen und persönlichen Grundrechte ab.
Lange hielt sich das Bild, Hindenburg sei nicht mitverantwortlich für den Aufstieg des Nationalsozialismus, er sei nur eine Marionette gewesen. Niess belegt anhand vieler historischer Quellen, dass dieses Bild nicht haltbar ist. Er bescheinigt Hindenburg eine tiefe Gläubigkeit, aber eine ebenso antidemokratische, geltungssüchtige und rechtsnationale Haltung.
Erkenntnisse regen zum Weiterdenken an
Das Publikum lauschte dem lebendigen Vortrag hoch konzentriert. Es gab noch einen anregenden Austausch unter anderem zu der Frage, ob Hindenburg an verschiedenen Stellen hätte anders handeln können. Niess Antwort war eindeutig: „Ja“. Man merkte: Dieses Wissen um die historischen Weichenstellungen vor und nach dem „Schicksalsjahr 1925“ hallte bei den Zuhörern sichtlich nach.
Zur Person Wolfgang Niess
Der Historiker, Moderator und Publizist Dr. Wolfgang Niess ist 1952 in Giengen geboren und machte dort 1971 sein Abitur. Danach studierte er Geschichte, Politikwissenschaft, Mathematik, Pädagogik und Kommunikationswissenschaft in Stuttgart und Tübingen.
Das Buch „Schicksalsjahr 1925 – als Hindenburg Präsident wurde“ ist in der Stadtbibliothek sowie im Buchhandel erhältlich. Weitere Titel des Historikers zur Weimarer Republik: „Der Hitlerputsch 1923: Geschichte eines Hochverrats“ (2023), „Der 9. November: die Deutschen und ihr Schicksalstag“ (2021), „Die Revolution von 1918/19: der wahre Beginn unserer Demokratie“ (2017).