In Hintervorderbach hört die Welt auf. Zumindest fühlt es sich für Carlo Brenner so an. Statt Work and Travel in Australien muss der junge Mann aus Oberschwaben in der neuen ZDF-Serie „Tschappel“ den Sommer in der Gastwirtschaft seiner Eltern verbringen. Auf der Suche nach Selbstbestimmung steht ihm unter anderem seine Tante Gabi zur Seite, gespielt von der aus Oggenhausen stammenden Schauspielerin Nina Gnädig. Diese spricht im Interview über ihre ganz eigenen Erfahrungen als Dorfkind, über schwäbische Schimpfwörter und über ein Leben zwischen Stadt und Land.
„Tschappel“ spielt in Oberschwaben, Sie sind in Oggenhausen aufgewachsen. Ist die Serie für Sie eine Art Heimspiel?
Nina Gnädig: Das ist sie in vielerlei Hinsicht. Ich bin zwar nicht im Schwäbischen geboren, bin dort aber – sehr ländlich – aufgewachsen. Die Gegend ist mir nach wie vor sehr vertraut, inklusive des Dialekts. Während der Dreharbeiten den ganzen Sommer am See verbringen zu dürfen, war ein Geschenk. Die Kollegen und das Team sind mir sehr ans Herz gewachsen. In Zußdorf, wo wir gedreht haben, wurden wir wahnsinnig warmherzig aufgenommen. Zu dieser Zeit fiel gerade die Apfelernte an und so standen zum Beispiel am Ende eines langen Drehtags 40 kleine Apfelmus-Gläser für uns bereit, die eine Nachbarin für uns eingekocht hat.
In der Serie wird nahezu ausschließlich Schwäbisch gesprochen. Hatten Sie dadurch einen Vorteil?
Ich würde den Dialekt eher ein initiales Merkmal meiner Rolle nennen. Manches lässt sich im Dialekt besonders prägnant, besonders originell sagen. Und beides macht auch die Figur auf ihre Weise aus, der Dialekt war quasi die Tür zu ihr.

Die Serie ist aber keine rein schwäbische Produktion, oder?
Wir kommen alle aus den unterschiedlichsten Ecken: zwei der Produzenten kommen gebürtig aus Zußdorf, die anderen beiden aus Bayern, während die Regie aus Niedersachsen und Berlin stammt. Sebastian Jakob Doppelbauer (Rolle Blala) ist beispielsweise aus dem österreichischen Vorarlberg. Jeremias Meyer (Rolle Carlo) wiederum ist gebürtiger Münchner, er hat für seine Rolle intensiv Schwäbisch geübt. David Ali Rashed (Rolle Aydin) kommt aus Berlin und benutzt Schwäbisch als Stilmittel innerhalb seiner Hochdeutsch sprechenden Figur. Unser Autor und Produzent Marius Beck hat zudem etwas ganz Ungewöhnliches getan: Er hat alle acht Drehbücher inklusive Regieanweisungen auf Oberschwäbisch eingesprochen. Man konnte sich das also alles anhören und mit seinem eigenen Dialekt vergleichen, zum Beispiel mit dem Älblerischen, mit dem ich aufgewachsen bin.
Durften Sie die anderen Darstellerinnen und Darsteller coachen?
Das war gar nicht nötig. Wir haben eher darüber gestaunt, wo man zum Beispiel zu „nicht“ „net“, „et“, oder „it“ sagt. Im gesamtdeutschen Raum werden die Zuschauer diese Unterschiede vermutlich nicht hören, aber da, wo die Serie herkommt und wo sie mitunter auch hinsoll, nämlich ins Schwäbische, da werden die Einheimischen merken, dass wir alle auf unterschiedliche Art und Weise sprechen.
Sprechen Sie privat ein anderes Schwäbisch als vor der Kamera?
Beim Älblerischen wird ja unter anderem das „R“ gerollt. Das habe ich am Set angeboten, es wurde dankend abgelehnt (lacht). Privat spreche ich eigentlich nur noch Schwäbisch, wenn ich jemandem begegne, mit dem ich aufgewachsen bin. Bärbel Stolz und ich sind zum Beispiel sehr gut befreundet, wir finden, dass es sich auf Schwäbisch am besten schimpft (lacht).
Beim Älblerischen wird ja unter anderem das „R“ gerollt. Das habe ich am Set angeboten, es wurde dankend abgelehnt.
Nina Gnädig, Schauspielerin
Sie spielen die Rolle der Tante Gabi – wie ist die so?
Gabi Duvall hat eine bewegte Biografie, von der man wenig weiß, die sich aber beiläufig immer miterzählt. Unser Regisseur Marc Ginolas hat über Tante Gabi gesagt: Sie ist das personifizierte Schweizer Taschenmesser. Sie ist die, die man ruft, wenn man was braucht. Ob eine Lösung, einen Pool, Alkohol, klare Entscheidungen oder Kondome. Tante Gabi kennt keine Probleme, sie ist die Lösung. Und gleichzeitig ist sie wie ein kleiner Bruder, der immer dabei ist, immer am Start ist, manchmal ungewollt. Man weiß nicht, wann sie kommt, wann sie geht, sie hat ihren eigenen Rhythmus – sie ist die Königin des Augenblicks. Und dadurch der Lebensfreude. Ich wünsche jedem von uns mehr Tante Gabi in sich selbst.
Klingt, als sei sie das genaue Gegenteil eines Tschappels.
Wobei Tante Gabi auch ein Tschappel ist. Der Unterschied ist, dass sie sich nicht als einer identifiziert. Von außen betrachtet, hat sie all das nicht, was Menschen in ihrem Alter zumeist haben: Sie hat weder eine Partnerschaft, noch hat sie ein Haus, Kinder, ein Auto, einen Job. Aber sie steht mit beiden Beinen und einem großen Herzen im Leben. Und im Glück. Sie lebt sehr von Moment zu Moment – und bisweilen auch von Promille zu Promille. In dieser Serie gibt es keine Antagonisten, wenn, dann ist sich jeder selbst einer. Und damit ist sich jeder selbst ein Tschappel. Wie im richtigen Leben (lacht).
Waren Sie selbst auch mal ein Tschappel?
Ja, klar! Man sollte zu seiner Tschappeligkeit stehen.

Eine schwäbische Serie, die auf dem Land spielt, ist eine Seltenheit. Sehen Sie darin den Trend zur Stadtflucht gespiegelt?
Das ZDF hat sich ganz bewusst dafür entschieden, Dorfleben zu erzählen. Ich glaube nicht, dass Stadtflucht der Grund dafür war. Es geht in der Serie um das allgemeingültige Gefühl, verloren zu sein, bevor man sich findet. Und das lässt sich mit einem ganz eigenen Charme in einer kleinen Welt besonders fokussiert erzählen.
Worin liegt dieser Charme?
Auf dem Dorf kennt jeder jeden. Ich bin damit aufgewachsen, dass man jeden beim Vorbeigehen grüßt, dass man umeinander weiß – und dass man einander beziehungsweise aufeinander achtet.
Ich höre da immer noch viel Verbundenheit zum Landleben raus. Sie kommen vom Dorf, wohnen in der Hauptstadt. Muss man sich denn zwangsläufig für eines von beiden entscheiden?
Ich habe das große Glück, beides zu leben. Ich bin gerne in Berlin, weil ich weiß, dass ich jede Jahreszeit auch in der Natur bei meinen Eltern und der Familie meiner Schwester erlebe. Einmal Land, immer Land – ich werde das immer in mir tragen. Und bin dafür sehr dankbar.
Einmal Land, immer Land – ich werde das immer in mir tragen.
Nina Gnädig, über Stadt- und Landleben
Wenn Sie an frühere Rollen zurückdenken, zum Beispiel aus „Soko Stuttgart“ oder „Verliebt in Berlin“ – wie haben sich die Rollen verändert, nach denen Sie suchen oder die Sie angeboten bekommen?
Ich habe das große Glück, dass ich oft recht extreme Figuren spielen darf, die weit weg von meinem Alltagsleben sind. Dadurch erschließen sich immer neue Universen, egal ob meine Rolle dem Adel entstammt oder dem Prekariat. Ich war die Mörderin, ich war das Opfer. Mit jeder Figur durfte ich was lernen, ob Klettern oder wie man einen Rolls-Royce fährt, in meiner Rolle als Kommissarin das Schulen und Schärfen der Beobachtungsgabe und der Menschenkenntnis. Das ist die Gnade unseres Berufs: dass wir 365 Leben ausprobieren dürfen. Um umso bewusster in das eigene zurückzukehren.
Gibt es eine Rolle, die Sie unbedingt noch spielen möchten?
Tante Gabi bringt wirklich viel von dem mit, auf das ich schon lange so richtig Lust habe: alles, was ich lerne, kann ich dieser Figur angedeihen lassen. Stichpunkt Schweizer Taschenmesser, multifunktionsfähig.
Klingt nach einer Traumrolle.
Absolut, auch weil man mit der so viel darf! Die Rolle ist quasi ein Freifahrtschein und das ist der Punkt, an dem es anfängt, spannend zu werden: wenn man die Komfortzone verlässt, an der Klippe steht – und springt. Und unten steht Tante Gabi und fängt mich auf.
„Tschappel“ ab 23. Mai in der ZDF-Mediathek
Nina Gnädig wurde 1977 in Nürnberg geboren. Aufgewachsen ist sie in Oggenhausen, heute lebt sie in Berlin. Ihre Ausbildung zur Diplom-Schauspielerin erhielt Gnädig an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, die letzten beiden Studienjahre absolvierte sie im Studio am Staatsschauspiel Dresden.
Zu ihren bekanntesten Rollen gehören die der Sabrina Hofmann in der Sat.1-Telenovela „Verliebt in Berlin“ (2005 bis 2006) sowie die der Kriminalkommissarin Anna Badosi in der ZDF-Serie „Soko Stuttgart“ (2008 bis 2012). Für ihre Rolle im Kinofilm „Little Paris“ gelangte Gnädig in die Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis 2009 in der Kategorie „Beste darstellerische Leistung – weibliche Nebenrolle“.
Ein Tschappel ist kein Depp, auch wenn er oft für einen gehalten wird. Der aus Oberschwaben stammende Begriff ist vielmehr eine liebevolle Bezeichnung für jemanden, der mit einer charmanten Mischung aus Naivität, Tollpatschigkeit und Leichtfertigkeit durchs Leben geht.
Die achtteilige Comedyserie „Tschappel“ handelt von Carlo Brenner (Jeremias Meyer), einem oberschwäbischer Provinz-Teenager, der auf der Suche nach sich selbst ist. Alle Folgen sind ab Freitag, 23. Mai, ab 10 Uhr in der ZDF-Mediathek verfügbar. Ab Dienstag, 3. Juni, wird wöchentlich ab 21.45 Uhr eine Doppelfolge auf ZDFneo ausgestrahlt.