Hungern, heizen und hamstern

Heidenheimer Familienbriefe zeigen den Alltag in Nachkriegsdeutschland: „Irgendwie werden wir schon durchkommen“

Auf Umwegen sind zu Kristin Keßler Briefe ihrer Eltern und Verwandten aus der Zeit von 1945 bis 1948 gelangt. Aus diesem Briefwechsel zwischen Heidenheim und dem Saarland ist ein berührendes Buch über den Alltag in der deutschen Nachkriegszeit entstanden.

Alfons Keßler und Willi Hub waren lebenslang beste Freunde. Sie waren Nachbarsjungen in Saarbrücken, der eine 1910, der andere 1911 geboren. Alfons war „wie’s Kind im Haus“ bei seinem Freund, und wo der eine hinging, folgte der andere. Im Laufe der Zeit lebten sie und ihre Familien an verschiedenen Orten, im Saarland, in Heidenheim oder Danzig, und über die Briefe der Familie waren sie stets in Kontakt.

Alfons Keßler (links) und Willi Hub waren lebenslang Freunde, hier an Ostern 1954 in Heidenheim, vor dem Haus von Willi Hub.
Alfons Keßler (links) und Willi Hub waren lebenslang Freunde, hier an Ostern 1954 in Heidenheim, vor dem Haus von Willi Hub. Foto: privat/Kristin Keßler

Willi Hub wurde Technischer Zeichner und ging 1936 vom Saarland nach Heidenheim als Maschineningenieur zu Voith. Alfons, der zunächst Jura studierte, begann 1938 das Studium des Maschinenbaus an der Technischen Hochschule in Danzig – weil dort die Lebenshaltungskosten wesentlich günstiger waren. Maria Lenk, seine Freundin und spätere Frau, ging 1938 ebenfalls nach Heidenheim, wo sie eine gut bezahlte Stellung bei Voith annahm. Willi unterstützte sie dort, während Alfons im über 1000 Kilometer entfernten Danzig studierte und mit Maria in Briefkontakt stand.

Die Herausforderungen während des Krieges

Kurz vor Ausbruch des Krieges, der sowohl im Deutschen Reich als auch in Danzig zu spüren war, heirateten Alfons und Maria und bezogen ihre erste gemeinsame Wohnung in Heidenheim. Alfons wurde zur Wehrmacht eingezogen und war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Soldat.

Die Hochzeit von Alfons und Maria Keßler kurz vor Kriegsbeginn in Heidenheim.
Die Hochzeit von Alfons und Maria Keßler kurz vor Kriegsbeginn in Heidenheim. Foto: privat/Kristin Keßler

Die Kinder Albrecht und Andrea kamen 1940 und 1943 in Heidenheim zur Welt. 1946 kam Alfons aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie nach Heidenheim zurück. Er war 35 Jahre alt, ein drittes Kind (der 1947 geborene Michael) war unterwegs, und das Paar hatte weder Einkommen noch Rücklagen. Maria hatte nach der Geburt des ersten Kindes aufgehört, zu arbeiten. Alfons ging nach Stuttgart, um sein Maschinenbaustudium zu beenden. Er wohnte in einem Studentenzimmer und während dieser Zeit entstand ein berührender Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau. Es ging um Alltagssorgen: Wo bekommt man Lebensmittel her, wo kann man hamstern, wo bringt man die Kinder unter, wie gelangen Waren über die Besatzungsgrenzen.

Alois Keßler schreibt im Juni 1946 aus Saarbrücken an seinen Bruder Alfons und dessen Familie. Es geht um Kartoffeln und den mühsamen Versand über Besatzungsgrenzen hinweg. Foto: privat/Kristin Keßler

Die 95 Briefe zwischen den Eheleuten, Freunden, Familie und Verwandten lesen sich nicht nur wie eine hoch spannende Alltags-Zeitgeschichte, sondern sie enthalten eine Fülle von Details, die heute kaum noch vorstellbar erscheinen. Alfons war mit einem selbst gebauten Holzkoffer aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Dieser Koffer, in dem heute noch Etiketten von US-amerikanischen Orangenkisten zu erkennen sind, diente über Jahre hinweg als Transportmittel für alles, was gebraucht wurde: Kartoffeln, Gurken, Pantoffelvorlagen von Alfons Vater, einem Schuster, der diese penibel zeichnete, damit die Familie Schuhe herstellen und diese tauschen könnte. Nach seinem siebten Semester in Stuttgart lebte Alfons wieder in Heidenheim und fertigte an einem behelfsmäßigen Reißbrett seine Diplomarbeit an: Er entwarf und zeichnete eine Kaplan-Turbine.

Schwierige Stellensuche: „Bei Voith war nichts zu machen“

Die anschließende Stellungssuche gestaltete sich aber schwierig. Alfons erzählt in seinen Lebenserinnerungen: „Bei Voith war nichts zu machen, sie verwiesen auf Mitarbeiter, die noch in russischer Gefangenschaft seien. Wahrscheinlich war es eine Ausrede, ich war ihnen zu alt.“ Schließlich bewarb er sich bei den Burbacher Hüttenwerken und erhielt in Heidenheim ein Telegramm, sich am nächsten Tag in Saarbrücken vorzustellen. Nur mit Genehmigungen war es möglich, über die Besatzungsgrenze zu kommen. Nachdem er seine Französischkenntnisse unter Beweis gestellt hatte, bekam er die Stelle – was nicht selbstverständlich war. Viele Firmen waren aufgrund der unklaren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sehr zurückhaltend bei Einstellungen.

Ich glaube, viele wissen nicht, welche Not in dieser Zeit herrschte.

Kristin Keßler, Herausgeberin der Nachkriegsbriefe

Alfons zog nach Saarbrücken in ein kleines Zimmer, bekam aber wegen der Wohnungsnot erst zwei Jahre später eine Wohnung zugewiesen. Maria lebte mit den drei Kindern weiter in Heidenheim, bis sie schließlich zu ihrem Mann nach Saarbrücken ziehen konnte. Sie schrieben sich, ohne zu jammern, über ihre Sorgen und wie sie immer wieder Mut fassten: „Irgendwie werden wir schon durchkommen“, so Maria an Alfons. Immer wieder wurde der Holzkoffer mit der Bahn zwischen den Grenzen hin- und hergeschickt. Auch die Frage, womit heizen, war oft Thema, und der Hunger in der Nachkriegszeit. Während des Krieges waren Nahrungsmittel aus den besetzten Gebieten an die deutsche Bevölkerung verteilt worden. Der eigentliche Hunger – nicht nur in Deutschland – begann nach dem Krieg.

Die Veröffentlichung der Familienbriefe

Die Herausgeberin der Briefe, Kristin Keßler, die jüngste Tochter von Alfons und Marie Keßler, geboren 1952 in Saarbrücken, betont: „Ich glaube, viele wissen nicht, welche Not in dieser Zeit herrschte. Wichtig ist mir dabei aber, dass man keine Täter-Opfer-Umkehr betreibt: Es war Deutschland, das diesen verbrecherischen Krieg entfesselt hat, und ohne die tatkräftige Hilfe der West-Alliierten USA und Großbritannien wäre die Lage in Deutschland nach dem Krieg vollends katastrophal gewesen“, so die gelernte Juristin und pensionierte Beamtin, die während acht Amtsperioden verschiedener Regierungen als Ministerialdirigentin in Stuttgart tätig gewesen ist.

Die jüngste Tochter von Alfons und Maria Keßler, Kristin Keßler, hat sieben Jahre mit den Briefen ihrer Familie gearbeitet, sie transkribiert und zu historischen Hintergründen recherchiert, bis sie sie 2024 veröffentlicht hat.
Die jüngste Tochter von Alfons und Maria Keßler, Kristin Keßler, hat sieben Jahre mit den Briefen ihrer Familie gearbeitet, sie transkribiert und zu historischen Hintergründen recherchiert, bis sie sie 2024 veröffentlicht hat. Foto: privat/Kristin Keßler

Kristin Keßler hat über zehn Jahre an der Edition dieser Briefe gearbeitet. Kurz bevor ihr Vater Alfons Keßler starb, drückte er ihr diese Briefe, seine Kriegstagebücher und Lebenserinnerungen in die Hand – und sie übernahm es, diese zu transkribieren, historisch einzuordnen und zu veröffentlichen. „Wenn ich es nicht mache, macht es keiner“, sagt sie. Im Laufe der Zeit sind immer mehr Briefe und Familiendokumente zu ihr gekommen, aus Nachlässen, zum Beispiel von ihrer Mutter Maria und ihrer Tante Paula Lenk, durch Zufallsfunde und Todesfälle. Mit der Veröffentlichung der Familienbriefe möchte Kristin Keßler allen, die sich dafür interessieren oder auch sich selbst wieder erinnern wollen, die Möglichkeit geben, zu erfahren, was ganz normale Menschen in der Nachkriegszeit erlebt haben.

95 Familienbriefe zwischen 1945 und 1948 hat Kristin Keßler herausgegeben. Das Buch enthält neben den Briefen und zahlreichen Bildern auch ausführliche zeitgeschichtliche Einordnungen.
95 Familienbriefe zwischen 1945 und 1948 hat Kristin Keßler herausgegeben. Das Buch enthält neben den Briefen und zahlreichen Bildern auch ausführliche zeitgeschichtliche Einordnungen. privat/Kristin Keßler

Das Buch „Irgendwie werden wir schon durchkommen. Familienbriefe 1945-1948 – eine Geschichte von Tatkraft, Mut und Gottvertrauen“ ist 2024 im Burbacher Verlag erschienen und im Heidenheimer Pressehaus, in der Buchhandlung Konold sowie direkt beim Burbacher Verlag unter Tel. 0711.67439246 erhältlich.

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