Quizfrage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, in Heidenheim von Hunnen überrannt zu werden? „Sehr hoch!“, würden manche da antworten, schließlich eroberte und zerstörte der Hunnenkönig Attila im fünften Jahrhundert die Stadt Aquileia – bekanntermaßen der römische Name Heidenheims. „Blödsinn!“, würden andere da entgegnen, denn freilich handelt es sich dabei um zwei gänzlich verschiedene Aquileias – ein italienisches und ein schwäbisches. „Gar kein Blödsinn!“, würden Erstere konstatieren. Womit sie nicht Unrecht hätten. Denn zumindest an zwei Abenden fällt Heidenheim dieses Jahr tatsächlich den Hunnen zum Opfer. Verdis Frühwerk „Attila“ feierte am Donnerstag Premiere bei den Opernfestspielen.
Die Aquileia-Verknüpfung mag dabei Zufall gewesen sein. Das, was diese Inszenierung sein möchte, welchen Stempel sie dem Dramma lirico aufdrücken möchte, könnte jedoch gewollter nicht sein. Unter der Regie von Matthias Piro reitet dieser „Attila“ auf direktem Wege in die Neuzeit. Parallelen zu gegenwärtigen Tyrannen und Despoten präsentiert die Oper mit der Subtilität eines Vorschlaghammers.
Kubrick-Hommage beim Heidenheimer „Attila“
Seinen Anfangspunkt setzt „Attila“ jedoch mehrere Millionen Jahre vor dem Hunnenfeldzug. Per Videoprojektion wird eine Hommage an Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ vorgeführt. Ein Menschenaffe entdeckt den Knochen als Werkzeug für sich, schleudert ihn in die Luft, wo er als Attilas Schwert wieder zu Boden fällt. Die Geburt der Macht ist erfolgt, Zivilisation und Gewalt sind von dort an zwei Seiten einer Medaille.
Kaltes Licht – selbst im Orchestergraben –, eine schlichte Konferenzbühne als Kulisse, ein Stuhlkreis und eine fast komplett monochromatische Farbpalette lassen wissen, dass hier weder Eskapismus noch Hoffnung zu erwarten sind. Robert Pomakovs brummiger Bass läutet die Ankunft des Hunnenkönigs ein. Nachdem sein Attila den Herrscher Aquileias tötet, schwört dessen Tochter Odabella (Leah Gordon) Vergeltung. Fortan zeigt sie sich als eine in der Wolle gefärbte Rachefurie, deren einziges Ziel es ist und bleibt, Attila zu töten.

Leah Gordons durchdringender Sopran verleiht Odabella die nötige Würze, um – neben der ebenfalls bei den Festspielen auftretenden Titelfigur aus „Elektra“ – als eine der wohl am meisten von Rache getriebenen Opernfiguren der Geschichte zu bestehen.
Dieser „Attila“ der Festspiele bedient sich gleich dreier verschiedener zeitlicher Ebenen: Seine Figuren bleiben statisch, erstens. Schon bei der Uraufführung 1846 durchliefen die Charaktere keine wesentlichen Wandlungen. Die Ausstattung der Oper ist anachronistisch, zweitens. Odabella schwingt das antike Schwert ihres Eroberers, dabei trägt sich Sneaker und Blazer. Ihr Geliebter, der Ritter Foresto (Adam Sánchez), bewaffnet sich mit einer Flinte, während Attilas Truppen mit modernen Maschinengewehren herumfuchteln. Und drittens vespern die Videoprojektionen im Hintergrund einmal kurz die Geschichte der Menschheit, genauer gesagt, die Geschichte der Gewalt, ab. Napoleon, Judith und Holofernes, Mussolini und Hitler und nicht zuletzt die Ära Trump untermalen das Geschehen auf der Bühne und spiegeln dieses wider.
Parallelen zum Attentat auf US-Präsident Donald Trump
Bisweilen gestalten sich die Parallelen zum Faschismus der jüngeren und gegenwärtigen Zeit allerdings etwas zu plakativ. Den zwischen Ezio (Marian Pop), dem Gesandten Roms, und Attila geschlossenen Waffenstillstand zelebrieren die Fraktionen in einer Art Parlamentssaal. Hinten säumen die Flaggen Europas das Fest, vorne präsentieren sich Attila in Trump-Manier und Odabella, die Giorgia Meloni wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Es fällt ein Schuss, Attila greift sich an das blutende Ohr, die Anspielung auf das Attentat auf den US-Präsidenten könnte nicht offensichtlicher sein.
In diesem Bild wird das Geschehen auf der Bühne live auf die Leinwand dahinter übertragen. Zwischen der Projektion, den Übertiteln und dem Getümmel auf der Bühne fällt es dann doch schwer, den Blick auf das fokussieren, was man in diesem Moment für das Wichtigste erachtet. Schade ist zudem, dass dabei zumindest in dieser Szene ein Aspekt in den Hintergrund tritt, der das überhaupt nicht verdient hat: die Musik.

Denn diese ist beim musikalischen Leiter Marcus Bosch und der Cappella Aquileia in ganz hervorragenden Händen. Im Gegensatz zur Inszenierung erhält das Publikum in Sachen Musik genau das, was es wohl erwartet: die volle Dröhnung Verdi. Hier wird nicht experimentiert, hier wird einfach nur fabelhaft musiziert. Und das mit einer Dynamik und einem Tempo, wie man es von der Cappella zwar gewohnt ist, ohne die so ein Verdi im Festspielhaus aber schlicht und einfach nicht funktionieren könnte. Prächtig gibt sich zudem der Festspielchor, der bisweilen sogar a cappella singt und dabei für einige der andächtigsten und bewegendsten Momente des Abends sorgt. Gesanglich bleibt bei der Besetzung wenig bis gar nichts auf der Strecke. Insbesondere Adam Sánchez überzeugt mit seinem warmen und zugleich wuchtigen Tenor auf ganzer Strecke.
Welche Lektion ziehen wir also daraus? Konservativ ist top, modern hingegen ein Flop? Keineswegs. Man muss dem Team um Regie (Matthias Piro), Bühne und Kostüme (Lisa Moro) sowie Video (Jonas Dahl, Janic Bebi) definitiven Respekt zollen. Dieser „Attila“ verlangt seinem Publikum viel ab und bekommt viel zurück. Nicht immer mag das Konzept ganz aufgehen, in zahlreichen Momenten tut es das aber voll und ganz.
Bravo- und Buhrufe im Festspielhaus Heidenheim
Hervorragend funktioniert etwa der Kreis, der sich am Anfang auftut und der am Ende wieder geschlossen wird. In ihrer finalen Konfrontation reduzieren sich Attila, Odabella, Foresto und Ezio aufs Minimum. Primitiv und mit affenartigem Gebaren stehen sich die vier gegenüber, ehe Odabella endlich blutige Rache an dem Hunnenkönig nimmt. Hier findet eine Devolution statt, die Rückkehr zum Animalischen. Sie liefert die Erkenntnis, dass aus Gewalt heraus keine Zivilisation entstehen oder wenigstens bestehen kann.
So viel Mut zur Moderne wurde vom Publikum zu Recht mit stehenden Ovationen und Bravorufen honoriert. Dass eine so anspruchsvolle Inszenierung nicht jedermanns Sache ist, überrascht nicht. Die vereinzelten Buhrufe, wohl an das Kreativteam gerichtet, könnten allerdings auch als Reaktionen von jenen Menschen gedeutet werden, welche „Attila“ vorführt: Faschisten und Autokraten. Dass diese am Donnerstag in der Unterzahl waren, stimmt hoffnungsvoll.
Noch eine Aufführung am Samstag, 19. Juli
Giuseppe Verdis Oper „Attila“ steht am Samstag, 19. Juli, ab 19.30 Uhr noch einmal auf dem Spielplan im Festspielhaus. Einige wenige Restkarten sind über hz-ticketshop.de sowie an der Abendkasse erhältlich. Ein Einführungsvortrag beginnt um 19 Uhr.