Arbeitskreis gegen sexualisierte Gewalt

„Der Täter steckt im Handy“: Heidenheim spricht über sexualisierte Gewalt im Netz

Sexualisierte Gewalt ist digital geworden – oft unsichtbar, aber gefährlich nah. Beim Fachtag in Heidenheim zeigten vier Expertinnen, in welchen digitalen Räumen sich junge Menschen heute aufhalten, wie Täter online vorgehen – und wie man sich, Kinder und Jugendliche schützen kann.

Es klingt harmlos, fast heiter. Als Prof. Dr. Ines Sura die Anwesenden im Heidenheimer Gemeindezentrum St. Maria bittet, zu summen, wenn sie schon einmal von „Cybergrooming“ gehört haben, entsteht ein eigenartiges Geräusch: flirrend, tastend, wie ein Bienenschwarm wandert es durch den Saal. Viele summen, manche zögern. Offenbar haben die meisten schon einmal davon gehört – doch wirklich sicher scheint sich kaum jemand zu sein.

Mit dieser ungewöhnlichen Methode macht Sura, Juniorprofessorin für Medienpädagogik und Medienbildung an der Universität Greifswald, sichtbar, wie diffus das Wissen rund um das Thema noch immer ist und wie groß zugleich das Unbehagen.

Denn was viele nur vage einordnen können, ist für Kinder und Jugendliche längst bittere Realität: Sexualisierte Gewalt findet heute auch online statt. Sie kommt als Direktnachricht. Als Kommentar unter einem Foto. Oder als Vertrauensmissbrauch im Chat eines Online-Spiels.

Ein Fachtag, der wachrüttelt

Der Fachtag „Virtualisierte sexualisierte Gewalt“, organisiert vom Arbeitskreis gegen sexualisierte Gewalt Heidenheim, hat sich genau diesem Thema gewidmet. In Vorträgen und Workshops trafen sich fünf Expertinnen und 73 Fachkräfte aus Schulsozialarbeit, Jugendhilfe, Beratung und angrenzenden Feldern, um zu lernen und handlungsfähiger zu werden – viele kamen aus dem Landkreis, einige aus größerer Entfernung.

Sie alle wollten verstehen: Wie ticken Täterinnen und Täter im Netz? Wie bewegen sich Kinder in digitalen Räumen? Und wie kann man sie dort schützen, wo Eltern oft kaum mehr mitkommen: zwischen TikTok, WhatsApp und Minecraft?

Die Fragen sind drängend. Denn die Grenze zwischen analog und digital ist längst verwischt. Und die Wege, auf denen Übergriffe geschehen, sind oft nur einen Klick entfernt.

Wenn der Täter nicht vor der Tür steht, sondern im Handy steckt

Dass sich sexualisierte Gewalt auch in digitale Räume verlagert hat, wurde im Laufe des Fachtags mehrfach deutlich – etwa in Prof. Suras Vortrag, der die systematischen Strategien hinter Begriffen wie „Cybergrooming“ oder „Sextortion“ erklärte. Die Professorin erklärte, wie Täterinnen und Täter gezielt Online-Plattformen nutzen, um das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen zu gewinnen.

Wie genau sie dabei vorgehen, beschrieb Sura anhand typischer Muster: „Oft geben sie sich als Gleichaltrige aus, wirken hilfsbereit, machen Komplimente und bieten ein offenes Ohr.“ Dann folgten persönlichere Gespräche, später intime Fragen und schließlich die Bitte um ein Nacktbild. „Das bleibt aber unser Geheimnis.“

Opfer gerieten in einen Kreislauf aus Manipulation, Drohungen und Erpressung. „Wird ein intimes Bild verschickt, missbrauchen Täterinnen und Täter es oft als Waffe.“ Denn: Wer nicht mehr mitmacht, wird unter Druck gesetzt, mit der Androhung, das Bild zu veröffentlichen.

Prof. Dr. Ines Sura, Lehrstuhlinhaberin Medienpädagogik und Medienbildung, Universität Greifswald Foto: Natascha Schröm

Die Folge: Kinder oder Jugendliche geraten in Isolation. Aus Angst vor Ärger oder Scham schweigen sie, ziehen sich zurück und bleiben allein. Sura betont deshalb die Notwendigkeit, Kindern früh und offen zu vermitteln: Du darfst mit allem zu mir kommen. Auch dann, wenn du Angst hast. Und auch, wenn du glaubst, etwas falsch gemacht zu haben.

Was ein Familienfoto mit Pädokriminalität zu tun haben kann

Dass die Gefahren nicht erst bei Chats beginnen, machte Valentina Lauer, Juristin und Expertin für digitales Aufwachsen, in ihrem Workshop „Kinder vor der Kamera“ deutlich. Oft seien es ganz gewöhnliche Familienfotos – etwa aus dem Freibad, der Badewanne oder dem Kinderzimmer – die später auf Plattformen landeten, auf denen sie niemals hätten erscheinen dürfen.

„Was viele nicht bedenken“, so Lauer, „ist, dass sich die Kontrolle über ein Bild verliert, sobald es gepostet wurde, auch in vermeintlich geschützten Gruppen.“ Immer wieder würden Bilder von Kindern aus WhatsApp-Chats oder öffentlich zugänglichen Instagram-Profilen in pädosexuellen Foren wiedergefunden.

Valentina Lauer, Juristin und Expertin für digitales Aufwachsen Foto: Natascha Schröm

Dabei gehe es nicht nur um Kriminalität, sondern auch um das Recht auf Selbstbestimmung. Kinder hätten ein Recht am eigenen Bild. Schon ab etwa sieben Jahren dürfen sie rechtlich mitentscheiden, ob ein Foto veröffentlicht wird. Lauer empfiehlt, Kinder früh für diese Rechte zu sensibilisieren. Wer lernt, sich selbst zu schützen, lerne auch, die Grenzen anderer zu achten.

Wenn der Übergriff in der Klassengruppe beginnt

Nicht immer sind es Erwachsene, die Grenzen überschreiten. Saskia Reichenecker und Rebecca Nemec, zwei Sozialarbeiterinnen aus Stuttgart, zeigten im Workshop „Virealität“, wie sexualisierte Gewalt auch unter Jugendlichen geschieht – oft unbemerkt, oft ungewollt.

Etwa, wenn intime Bilder aus einer früheren Beziehung weitergeschickt werden. Oder wenn Mitschülerinnen und Mitschüler abfällige Kommentare in Gruppen teilen, Memes basteln, Gerüchte streuen. Oft geschehe das in einem schwer durchschaubaren Zwischenraum, den Reichenecker und Nemec „Virealität“ nennen: Wo virtuelle und reale Welt verschmelzen.

Denn wer online gemobbt, beschimpft oder bloßgestellt wird, erlebt das auch am nächsten Tag auf dem Schulhof.

Rebecca Nemec, Fachkraft der Sozialen Arbeit B.A.
Rebecca Nemec, Fachkraft der Sozialen Arbeit B.A. Foto: Natascha Schröm

Die beiden Fachkräfte plädieren dafür, mit Jugendlichen regelmäßig über ihren digitalen Alltag zu sprechen – nicht erst dann, wenn es schon Probleme gibt. Eltern, so ihre Erfahrung, müssten nicht jede App verstehen, aber sie sollten offen zuhören. „Oft reicht echtes Interesse, um im Gespräch zu bleiben. Und um zu merken, wenn etwas nicht stimmt.“

Saskia Reichenecker, Fachkraft der Sozialen Arbeit M.A. vom Verein zur Förderung von Jugendlichen aus Stuttgart Foto: Natascha Schröm

Warum Täterinnen und Täter oft in zwei Welten leben

Wie Täter denken und warum sie online andere Hemmschwellen haben, erklärte Dr. Elisabeth Quendler-Adamo, psychologische Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Ulm. Die meisten Täter und Täterinnen, so ihre Beobachtung, trennten innerlich zwischen der realen Welt und der virtuellen.

Dr. Mag. Elisabeth Quendler-Adamo, Psychotherapeutin, Paar- und Sexualtherapeutin, Forensische Sachverständige für Strafrecht, Uniklinikum Ulm Foto: Natascha Schröm

„Im Netz erscheint das Unrecht kleiner“, erklärt sie. Täter und Täterinnen erlebten das Gegenüber nicht mehr als echten Menschen, sondern als Objekt. Der Bildschirm, so ihre Erfahrung, wirke wie ein Schutzraum. Das Gegenüber werde entmenschlicht, reduziert auf ein Bild, einen Chat. Viele Täter würden die realen Konsequenzen verdrängen – oder reden sich ein, dass niemand zu Schaden kommt.

Doch tatsächlich ist das Netz ein öffentlicher Ort: Viele Täter unterschätzen, wie sichtbar ihre Spuren sind. Und wie viele Kinder betroffen sind. Quendler-Adamo betont: Wer aufklärt, schützt. Und wer zuhört, macht Mut.

Zwischen Sexting und Selbsthass: Was Kinder im Netz wirklich erleben

Im Hauptvortrag erinnerte Prof. Sura an viele Tabus. Etwa an das Thema Sexting, das oft pauschal als Gefahr dargestellt werde, obwohl es zunächst eine selbstbestimmte sexuelle Ausdrucksform sei. Problematisch werde es, wenn der Konsens fehle: „Sie schickt ein Bild. Er nicht. Und plötzlich steht da: Du Schlampe.“

Auch Themen wie Selfie-Dysmorphophobie – also der innere Druck, dem perfekten Filter-Ich zu entsprechen – gehören für viele Jugendliche zum Alltag. „Wir bringen Mädchen viel zu selten bei, ihren Körper für das zu schätzen, was er kann – statt dafür, wie er aussieht.“ Umso wichtiger seien Bewegungen wie #fürmehrrealitätaufinstagram, Influencerinnen wie Celeste Barber oder Aufklärungsformate wie „#Bodytalk“ von Juuuport.

Zuhören als Kinderschutz – ein Ziel, das alle angeht

Dass sexualisierte Gewalt im Netz ein Thema ist, das längst in die Mitte der Gesellschaft gehört, machte Sinaida Rohlik in ihrer Zusammenfassung deutlich. Sie ist eine der Organisatorinnen des Fachtags, der mit 73 Teilnehmenden sogar überbucht war.

„Uns war wichtig, dass der Fachtag nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern auch Haltung stärkt“, sagt Rohlik. Die positive Resonanz habe gezeigt, dass die Veranstaltung einen Nerv getroffen habe. Für 2027 sei bereits eine Neuauflage geplant.

Ihr Wunsch: Dass sich mehr Menschen trauen, hinzuschauen. Fragen zu stellen. Und über Sexualität zu sprechen. Ehrlich, offen, ohne Vorurteile. Denn Schweigen schützt nicht. Reden schon.

Die wichtigste Botschaft: Schutz beginnt mit offener Kommunikation

Wer Kinder stark machen will, braucht keine technischen Tools, sondern Vertrauen. „Wenn wir unsere Kinder sprachfähig machen, schützen wir sie am besten“, sagte Prof. Sura zum Abschluss.
Dazu gehört auch: eigene Unsicherheiten aushalten. Über Sexualität sprechen – ohne Tabus. Und vor allem: zuhören, bevor es zu spät ist. Denn: Sexualisierte Gewalt im Netz ist nicht virtuell. Sie ist real, nur der Tatort hat sich verändert.

Die Organisatoren und Expertinnen vom Fachtag (von links nach rechts): Saskia Reichenecker, Prof. Ines Sura, Rebecca Nemec, Philipp Betzholz, Dr. Elisabeth Quendler-Adamo, Sinaida Rohlik, Valentina Lauer. Foto: Natascha Schröm

Was ist „Cybergrooming“

Cybergrooming – der Begriff beschreibt das gezielte Anbahnen sexueller Kontakte durch Erwachsene gegenüber Minderjährigen im Internet, indem diese gezielt Vertrauen zu den Opfern aufbauen. Es beginnt meist harmlos: Man spielt zusammen ein Online-Game. Man schreibt sich. Man bekommt Komplimente. Später wird es persönlicher. Intimer. Und irgendwann fragt jemand nach einem Nacktbild. „Das bleibt aber unser kleines Geheimnis.“

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