In der Geburtsurkunde des Neuen Kammerchors Heidenheim müsste eigentlich Heilbronn, und nicht Heidenheim als Geburtsort stehen. Vor 20 Jahren wurde der Nachfolger des früheren Mädchen-Kammerchors des Schiller-Gymnasiums gegründet – explizit für einen Auftritt in Heilbronn. „Eher eine Art Projektchörchen“ sei das damals gewesen, erzählt der Gründer und Leiter des Neuen Kammerchors, Thomas Kammel. Im Interview erzählt er, wie sich der Chor entwickelt hat und wo die Reise hingeht.
Angefangen hat der Neue Kammerchor, wie Sie sagen, als „Projektchörchen“. Was für eine Art von Chor ist er heute?
Ich denke, er hat – sowohl was das zeitliche Engagement als auch was die Qualität angeht – semiprofessionellen Charakter. Im vergangenen Jahr haben wir gut 40 Auftritte absolviert. Wenn man die Schulferien abzieht, kommt man damit rein rechnerisch auf etwa ein Konzert pro Wochenende. Professionalität definiert sich zudem darüber, dass jemand damit seine Existenz finanzieren kann. Das ist bei uns natürlich nicht der Fall, wir sind als gemeinnützige Unternehmergesellschaft organisiert. Dennoch erwirtschaften wir Gelder, durch die es möglich ist, große Konzertreisen zu machen.
Diesen Status, die großen Konzertreisen, dieses Renommee – hatten Sie das von Anfang an im Blick?
Gar nicht. Das hat sich über die Jahre entwickelt, mit ersten Wettbewerben. Wenn man sich als Team Ziele setzt, kann man sich ganz anders motivieren. Wenn dann auch noch ein erfolgreiches Ergebnis dabei herauskommt, steigt die Motivation weiter an. Das ist der Grund, warum ich das mache. Nicht, damit wir uns Urkunden an die Wand hängen können. Es ist vielmehr ein ganz wichtiger Motivationsbaustein in der Arbeit. Wir erleben auf Wettbewerben schließlich auch andere Chöre.
Wenn man sich als Team Ziele setzt, kann man sich ganz anders motivieren.
Thomas Kammel über den Effekt von Chorwettbewerben
Wie steht der Neue Kammerchor im Vergleich zu denen da?
Oben, aber ich würde sagen, nicht ganz oben. In Armenien, wo wir kürzlich waren, gibt es den Chor „Little Singers of Armenia“. So etwas habe ich so noch nie gehört. Wenn die Kinder dort mit zwölf Jahren in den Konzertchor eintreten, müssen sie innerhalb von drei Jahren 500 Lieder auswendig können. Das ist zumindest mal eine Aussage über den Anspruch dort. Für uns war das zunächst etwas desillusionierend.
Wie haben Sie und die Sängerinnen und Sänger darauf reagiert?
Nach der Probe habe ich meinen Chor ein bisschen stramm gemacht. Wenn man nämlich einfach so vor sich hin probt, schleicht sich da eine gewisse Schlamperei ein. Aber der Kammerchor hat sich danach zusammengerissen und enorm gesteigert. Diese Motivation bekommt man nicht, wenn man ausschließlich hier in seiner „Bubble“ vor sich hin probt. Dazu muss man raus in die Kulturwelt.
Erfolge gab es viele für den Kammerchor. Rückschläge aber auch. Die Corona-Pandemie stellte sicherlich eine Zäsur dar, die man heute noch spürt.
Absolut. Ich staune selbst ein wenig darüber, wie wenig Chormitglieder es derzeit in den Jahrgangsstufen 1 und 2 gibt. Ich denke, dass die Pandemie mit ein Grund ist, warum diese beiden Jahrgangsstufen jetzt so schwach vertreten sind. Die 10. Klasse, also die Klasse darunter, ist viel stärker vertreten, auch bei der Wahl der Kurse im Musikprofil. Im Musikleistungskurs ist es genauso. Man sieht also auch abseits vom Chor in der normalen Schulentwicklung, dass da vor vier Jahren etwas Einschneidendes passiert ist. Ich war damals so verzweifelt, dass ich den Chor offiziell aus der Schule herausgenommen habe, weil die Coronaregeln für außerschulische Chöre lockerer waren.

Heute steht der Chor wieder stabiler da. Die Ziele sind gesteckt, Ihre Anforderungen hoch –vielleicht manchmal zu hoch?
Ich denke, die Anforderung an sich ist nicht das Wesentliche, sondern wie man sie an die jungen Leute kommuniziert und inwiefern es mir gelingt, das im positiven Sinne als Motivationsschub zu vermitteln. Die schlechte Alternative, von der ich hoffe, dass ich davor gefeit bin, wäre, diese Anforderungen mit dem Brecheisen durchzusetzen.
Gelingt Ihnen das?
Ich denke, es funktioniert in dem Moment, in dem die Schülerinnen und Schüler merken, dass es Wirkung hat. Erfolg ist wie eine Droge. Wenn man da Blut leckt, und merkt, dass das fleißige Proben etwas gebracht hat, dann ist das positiv. In dem Moment, in dem ich das mit Druck, Sanktionen oder gar verbaler Verrohung versuche, durchzudrücken, klappt es nicht.
Erfolg ist wie eine Droge. Wenn man da Blut leckt, und merkt, dass das fleißige Proben etwas gebracht hat, dann ist das positiv.
Thomas Kammel über seine hohen Anforderungen an den Kammerchor
Eines Tages werden Sie in Ruhestand gehen. Wie sieht Ihr Plan bis dahin aus?
Ich bin in dieser Hinsicht bewusst ein Stück weit planlos. Ich habe ein Motto: gesund bleiben. Meinem Beruf als Lehrer beziehungsweise als Musikpädagoge gehe ich nach wie vor gerne nach. Wir erfinden hier in der Schule eigentlich jedes Jahr das Rad neu. Manchmal läuft es gerade deswegen weniger rund. Wie lange ich mein Kerngeschäft machen kann, darf oder will, das lasse ich den lieben Gott entscheiden (lacht).
Gibt es ohne Thomas Kammel überhaupt noch einen Neuen Kammerchor?
Das kann ich mir schon vorstellen. Jeder ist ersetzbar. Wir haben immer wieder Chormitglieder, die später Musik studieren und bei denen man sich vorstellen könnte, dass da jemand als Chorleitung nachkommt. Das Problem ist immer der Standort Heidenheim. Wenn die Arbeit nach mir in irgendeiner Form weitergeht, muss die Nachfolgerin oder der Nachfolger seinen oder ihren eigenen Weg gehen dürfen. Wenn einem da ständig einer im Nacken sitzt und immer alles besser weiß, tut man sich unendlich schwer.