Archäologische Grabungen

Warum sich die Gemeinde Gerstetten vom Landesdenkmalamt verfolgt fühlt

An gleich mehreren Stellen musste die Gemeinde Gerstetten jüngst archäologische Grabungen möglich machen – und diese finanzieren. Im Gemeinderat herrscht Unverständnis über das Vorgehen des Landesdenkmalamts. Speziell zum Heldenfinger Baugebiet Vordere Gasse bezog jetzt eine Archäologin Stellung.

Was ist wichtiger: archäologische Grabungen oder Bauplätze? Die Erkenntnis, dass Heldenfingen rund 300 Jahre älter ist als gedacht oder Arbeitsplätze? Die Belange einer Gemeinde oder die des Landesdenkmalamts (LDA)? Was einfach klingt, ist dann doch schwer zu beantworten. Diese Erkenntnis bleibt von der jüngsten Sitzung des Gerstetter Gemeinderats, in der Dr. Aline Kottmann, Gebietsreferentin für Mittelalterarchäologie am LDA, zu den Grabungen im Heldenfinger Baugebiet Vordere Gasse Stellung bezog.

Was ist aus Sicht der Gemeinde das Problem?

Die Gemeinde stellt die Notwendigkeit der Grabungen infrage bzw. kritisiert die Verhältnismäßigkeit von Kosten und Erkenntnissen. Schon bei den 2020 erfolgten Sondage-Grabungen zur Voruntersuchung der Vorderen Gasse, so Bauverwaltungsamtsleiter Hannes Bewersdorff, habe sich der Gemeinde nicht erschlossen, warum weitere Grabungen aus Sicht des LDA für nötig erachtet wurden. Die Kosten für die Grabungen sind aus Gemeindesicht zu hoch. „Wir hätten uns gewünscht, dass jemand bewertet, ob die Grabungen verhältnismäßig sind.“ Diesbezügliche Schreiben der Gemeinde an Behörden, Abgeordnete, Landrat und Ministerinnen hätten keinen Effekt gehabt. Dass die Gemeinde für die Ausgrabungen aufkommen muss, ohne Einfluss auf deren Dauer zu haben, ist aus Gerstetter Sicht ebenfalls unverständlich.

Fund in Heldenfingen: die Abfallgrube einer Ofenkuppel. Foto: Marina Hinnen/Ostalb-Archäologie

Was sagt Dr. Kottmann zum Vorwurf der mangelnden Verhältnismäßigkeit?

„Wir suchen keine Schätze“, machte Kottmann deutlich. Ziel der Grabungen sei es, Erhaltenswertes und Dokumentationswürdiges auszugraben, das sonst zerstört würde. Für die Ortsgeschichte Heldenfingens seien die Erkenntnisse wichtig und interessant. Den Vorwurf, dass Gemeinden zur Kostenübernahme archäologischer Grabungen gezwungen würden, sah Kottmann beim LDA an der falschen Adresse. Das 2017 in Baden-Württemberg eingeführte Verursacherprinzip sei eine politische Entscheidung.

Was sagt Bürgermeister Roland Polaschek?

„Wir hätten diese Bauplätze zu einer tollen Zeit verkaufen können.“ Jetzt aber sei die Nachfrage nach Bauland aufgrund der hohen Baukosten geringer. Außerdem kritisiert er den „unkoordinierten Ablauf“ bzw. den späten Zeitpunkt, zu dem das LDA kurz vor der Erschließung des Gebiets ins Spiel kam: „Wir waren mit allem fertig und dachten, wir können in die Vermarktung gehen – dann kam das Landesdenkmalamt.“ Unverständnis äußerte Polaschek auch darüber, dass einige früher bereits unterkellerte Flächen vom LDA nicht aus dem Grabungsgebiet herausgenommen wurden. „So teuer haben wir noch nie ein Baugebiet erschlossen.“

In welchen Fällen wird das Landesdenkmalamt tätig?

Das LDA wird bei der Erstellung von Bebauungsplänen als Träger öffentlicher Belange angefragt, wenn im betreffenden Gebiet eine archäologische Verdachtsfläche liegt. Verdachtsflächen werden anhand von Zufallsfunden erstellt, etwa dann, wenn jemand auf einem Acker etwas archäologisch Wertvolles findet oder Luftbilder darauf hindeuten. Ist das LDA der Ansicht, dass gegraben werden muss, muss die betroffene Gemeinde eine Grabungsfirma beauftragen. Auf deren Preise hat das LDA keinen Einfluss – freie Marktwirtschaft.

Im Uhrzeigersinn, beginnend oben mittig: Bruchstück eines Webgewichts, Webgewicht zum Spannen von Kettschnüren, Spinnwirtel zum Spinnen von Hand, Stück tierisches Horn, das als Werkzeug genutzt wurde, Schleifstein aus Sandstein. Foto: Marina Hinnen/Ostalb-Archäologie

Wie viel muss die Gemeinde für die Grabungen bezahlen?

Die Rechnung der Grabungsfirma im Gebiet Vordere Gasse beläuft sich laut Bauverwaltungsamtsleiter Bewersdorff auf 167.000 Euro. Hinzu kommen rund 20.000 Euro für die fachliche Betreuung der Grabungen durch das LDA. „In Summe kommt das die Gemeinde teuer zu stehen“, so Bewersdorff. Unerwartet teuer: Laut Ausschreibungsangebot sei man von Kosten in Höhe von 80.000 Euro ausgegangen. Allerdings bezog sich das Angebot auf eine Grabungsdauer von sechs Wochen, obwohl das LDA bereits zu Beginn von neun Wochen ausgegangen war. Hingezogen haben sich die Grabungen letztlich 16 bis 17 Wochen. Allerdings fallen in diesen Zeitraum im Jahr 2023 vier Wochen Krankheit und Betriebsurlaub. Tatsächlich war die Grabungsfirma insgesamt also elf Wochen im Einsatz.

Welche neuen Erkenntnisse haben die Grabungen gebracht?

Kurz gesagt: Heldenfingen ist nun nachgewiesen rund 300 Jahre älter als seine erste urkundliche Erwähnung aus dem Jahr 1231. Wie Kottmann ausführte, steht durch die Funde fest, dass schon im Hochmittelalter – und nicht erst im Spätmittelalter – Menschen in Heldenfingen gesiedelt und dort mit Bohnerz Eisenverhüttung betrieben haben. Zwar habe man schon vor den jetzigen Grabungen von einer früheren Besiedelung ausgehen können, so Kottmann, durch Funde belegt sei das aber nicht gewesen. Nachgewiesen war hochmittelalterliche Eisenverhüttung auf der Ostalb bislang nur in Essingen. Nun also auch in Heldenfingen, das damals abseits römischer und hochmittelalterlicher Wegetrassen lag.

Was genau wurde im Gebiet Vordere Gasse gefunden?

Die Archäologen stießen bei ihren Grabungen auf Schlackenhalden, Verhüttungsfeuerstellen, Hinweise auf Röstöfen und Abfallgruben. Außerdem entdeckten sie Pfostenlöcher, Brunnen, Webgewichte, Spindelwirtel, Schleifsteine, Langhäuser und Grubenhäuser, die bis ins zwölfte Jahrhundert hinein als Arbeits- und Lagerhäuser genutzt wurden, beispielsweise als Webhäuser. Mithilfe von Keramikfunden, etwa Bruchstücken von Töpfen, Schalen und Topfdeckeln, wurden die Funde datiert. Viele davon stammen aus dem Spätmittelalter, einige aus dem Hochmittelalter.

Was passiert jetzt mit den Funden?

Die gefundenen Gegenstände lagern jetzt im Archäologischen Landesmuseum in Rastatt. In Heldenfingen selbst ist nichts mehr zu finden: Auch die Fundsubstanz, beispielsweise die Schlackenhalden, die sich nicht als Ganzes bewahren lassen, wurde von der Grabungsfirma entnommen und untersucht. Probenmaterial wurde gesichert. Sonstige Erkenntnisse sind digital archiviert. Laut Kottmann kann eine weitere Erforschung der Funde folgen, der Dokumentenwert sei gesichert. Auf Nachfrage spricht sie allerdings auch von einem Auswertungsstau beim LDA. Weiter ausgewertet wird das Material also nur dann, wenn Mitarbeiter dafür abkömmlich sind. Fest steht bereits jetzt: 2025 sollen die Funde bei einer Tagung des Kulturvereins Königsbronn zur Eisenverhüttung auf der Ostalb thematisiert werden.

Gibt es eine Häufung archäologischer Grabungen in Gerstetten?

„Wir fühlen uns verfolgt vom Landesdenkmalamt“, machte Bürgermeister Polaschek seinem Ärger Luft. So habe die Gemeinde allein 2023 rund zwei Millionen Euro für archäologische Grabungen ausgeben müssen. Untersucht wurden neben der Vorderen Gasse auch die Erweiterungsflächen von Gardena bei Heuchlingen sowie die Baulücke zwischen Seeplatz und Bismarckstraße in Gerstetten. Speziell die langwierigen Gardena-Grabungen stoßen gemeindeseits auf: „Hier wurde eine einmalige Chance vertan, eine Jahrhundertchance. Da könnte jetzt ein Hochregallager stehen“, so Polaschek zu den verschobenen Plänen des Unternehmens. Wenn es ganz blöd laufe, werde Gardena seine Pläne andernorts verwirklichen. „Dann könnten wir 300 Arbeitsplätze verlieren“, sagte Polaschek, „weil niemand abwägt, was wichtiger ist: Pfosten oder Arbeitsplätze.“ Er selbst werde jedenfalls nie wieder eine innerörtliche Fläche zur Bebauung vorschlagen.

Aline Kottmann kann die Reaktionen von Gemeinderat und Verwaltung durchaus verstehen. Ihr sei klar, dass die vielen Grabungen als Ärgernis angesehen werden könnten. Allerdings ergänzt sie: „In Gerstetten entwickelt sich auch viel.“ Viele Bauvorhaben, viele potenzielle Grabungen. Darüber hinaus sei das Gerstetter Gemeindegebiet eben auch sehr groß, entsprechend die Wahrscheinlichkeit für Grabungen. „Wir haben nicht Gerstetten ausgewählt und gesagt: Da graben wir jetzt überall.“

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