Zitter-Sommer für Bahnreisende - Streik-Gefahr steigt
Unsicherer Reisesommer für Millionen Fahrgäste: Bei der Deutschen Bahn sind in den kommenden Wochen stets Streiks möglich. Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen lässt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft ihre Mitglieder über unbefristete Arbeitsniederlegungen abstimmen. Schon während der Abstimmung sind Warnstreiks möglich – wann ist dabei noch völlig ungewiss. Den Fahrgästen der Deutschen Bahn und auch der Konkurrenzunternehmen stehen damit unruhige Wochen bevor.
Ferienzeit unter unsicheren Vorzeichen
«Die EVG will jetzt Millionen Menschen die Sommerferien vermiesen», empörte sich die Bahn. Die Eskalation sei unnötig, die Gewerkschaft verunsichere nur die Reisenden. Tatsächlich kommt die Ankündigung kurz nach Ferienbeginn im einwohnerstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Nach und nach folgen nun die übrigen Länder, erst Mitte September endet die Saison mit dem Ferienende in Bayern.
«Wir wären heute gerne vor sie getreten mit einem anderen Ergebnis», sagte EVG-Chef Martin Burkert und verwies auf den Abschluss, den die EVG bereits mit dem Unternehmen Transdev vereinbart hat. Bei der DB waren die Verhandler davon aber noch weit entfernt.
Scheitern nach langen Verhandlungen
Ein Abschluss der Tarifverhandlungen sei am Mittwochabend ganz nah gewesen, betonte die Bahn. «Es liegen 140 Seiten unterschriftsreifer Tarifvertrag auf dem Tisch.» Alles bisher in den Verhandlungen Erreichte sei nun weg.
Nach Angaben der EVG hatte die Bahn zuletzt angeboten, bei 27 Monaten Laufzeit 400 Euro mehr pro Monat zu zahlen. Die erste Erhöhung um 200 Euro sollte im Dezember kommen, die zweite Erhöhung im August 2024. Hinzukommen 2850 Euro Inflationsausgleichsprämie. Nach Ansicht der Gewerkschaft zu wenig dauerhafte Erhöhung, zu viel Laufzeit und auch zu späte Auszahlungszeitpunkte.
«Angesichts der immer noch hohen Inflation erwarten die Beschäftigten umgehend eine möglichst kräftige Lohnerhöhung», sagte EVG-Chef Martin Burkert. «Dass wir unsere Forderung nicht in voller Höhe durchsetzen werden, ist völlig klar, aber in die Nähe wollen wir schon kommen.»
Der Tarifkonflikt dauert seit Ende Februar an. Die EVG ging mit dem Ziel einer Festbetragserhöhung von mindestens 650 Euro im Monat oder zwölf Prozent bei den oberen Lohngruppen in die Gespräche. Die Laufzeit sollte nach ihren Vorstellungen ein Jahr betragen.
Urabstimmung dauert vier bis fünf Wochen
Die Urabstimmung wird absehbar Ende Juli beendet sein. Für unbefristete Streiks braucht die EVG 75 Prozent Ja-Stimmen. Angeschrieben werden 110.000 Gewerkschaftsmitglieder, die alle Beschäftigte der Deutschen Bahn sind. Damit die Abstimmung gültig ist, müssen mindestens 75 Prozent der Angeschriebenen abstimmen. Wenn drei Viertel für unbefristete Streiks stimmen, wird der Bundesvorstand der Gewerkschaft die konkreten Streikmaßnahmen beschließen.
Details zu den während der Urabstimmung möglichen Warnstreiks nannte die EVG nicht. Vermutlich wird viel davon abhängen, wie sich die Vertreter der DB nun verhalten. EVG-Tarifvorständin Cosima Ingenschay deutete an, dass der Arbeitgeber jederzeit mit einem neuen Angebot auf die EVG zugehen könnte und Warnstreiks dann zum Beispiel im Rahmen aufgefrischter Verhandlungen als Druckmittel möglich wären.
Ziel der EVG wohl ein Abschluss wie bei Transdev
Zu Beginn der laufenden Woche hatte die EVG mit einer Tarifeinigung bei Transdev überrascht, nach dem Marktführer DB das zweitwichtigste Eisenbahn-Unternehmen in Deutschland. Die Gewerkschaft erreichte dort 420 Euro mehr pro Monat in zwei Stufen, eine Laufzeit von 21 Monaten und 1400 Euro Inflationsausgleichsprämie. Die erste Erhöhung um 290 Euro ist dort für November vorgesehen.
Ingenschay betonte zuletzt immer wieder, dass dieser Abschluss Maßstäbe auch für die Gespräche mit der DB setze. Ganz ohne Kritik blieb dieser Abschluss nicht, offenbar hatten sich einige Gewerkschaftsmitglieder mehr erhofft.
Ungewöhnlich harter Kurs der Gewerkschaft
Die EVG geht in dieser Tarifrunde härter vor, als man es von ihr gewohnt ist. Streitlustiger war in der Vergangenheit eher die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Die EVG und die GDL rivalisieren um Einfluss und Mitglieder bei der Bahn.
Die vorige Tarifrunde birgt einen Grund dafür, dass die EVG jetzt so in die Vollen geht. Mitten in der Corona-Krise hatte sie im Gegenzug für sichere Arbeitsplätze einen mageren Tarifabschluss geschluckt. «Es war vereinbart, dass das ausgeglichen wird», sagte Burkert.
Letzter großflächiger Streik liegt lange zurück
Gewerkschaftschef Burkert erinnerte bei seiner Pressekonferenz am Donnerstag an Arbeitsniederlegungen vor 31 Jahren, organisiert von Vorgängerorganisationen der EVG. Laut alten Zeitungsberichten wurden damals mit punktuellen Streiks elf Tag lang immer wieder Nadelstiche gesetzt. Züge fielen nicht direkt aus, weil keine Zugführer oder Mitarbeiter im Stellwerk arbeiteten, sondern weil die Wartung lahmgelegt wurde. Im Fokus lag damals der Fern- sowie der S-Bahnverkehr, vor allem in NRW traf es die Pendler heftig.
Lokführer in Wartestellung
«Ein Ergebnis wird durch die Urabstimmung um Monate verzögert», konstatierte die Bahn nach der EVG-Ankündigung. Bekommt der Konzern diesen Konflikt nicht zügig gelöst, läuft sie und mit ihr die Kundschaft in eine doppelte Auseinandersetzung hinein. Streiks der Lokführer drohen derzeit zwar nicht, doch die Friedenspflicht läuft Ende Oktober aus. Danach könnte auch die GDL wieder mit Arbeitsniederlegungen ihren Forderungen Nachdruck verleihen – und auch diese sind für die Bahn nicht ohne. Neben mehr Entgelt und Inflationsausgleich steht eine kürzere Wochenarbeitszeit zur Debatte. Der Streik-Rekord der Lokführer aus dem Jahr 2015 liegt bei 127 Stunden im Personen- und 138 Stunden im Güterverkehr.