„Der Raub der Sabinerinnen“: Brüllend komische Liebeserklärung ans Theater
Wehe, wenn das S-Wort fällt. Schmiere – diesen Begriff hört man im Theater so gar nicht gern. Schwank – damit lässt sich schon eher leben. Im Heidenheimer Naturtheater feierte am Freitag „Der Raub der Sabinerinnen“ Premiere, auf der Bühne selbstverständlich. Im metaphorischen Raum stand gleichzeitig die Frage, was das Naturtheater wohl aus dem Quellmaterial der Gebrüder Franz und Paul von Schönthan machen würde: Einen Schwank, oder eben eine Schmiere. Das gute oder das schlechte S-Wort.
Unbeschwerte Komödie statt Tragödie
Es sollte anders kommen, als man dachte. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das Naturtheater diverse falsche Fährten fürs Publikum auslegte. Schon bei der Vermarktung des Stückes im Vorfeld der Spielzeit vermuteten geneigte Zuschauerinnen und Zuschauer eine klassische Römertragödie hinter dem Titel und nicht die unbeschwerte Komödie, die darin eigentlich ausgebrütet wird. Der zunächst unvermittelte Beginn der Aufführung sollte das Publikum ebenfalls auf den Holzweg schicken. Mit dem Militärjeep angerauscht kam nämlich nicht der erste Akt, sondern vielmehr der Vereinsvorsitzende Stefan Benz. Erst nach dessen Ansprache ging es wirklich los.

Doch auch hier direkt: die dritte falsche Fährte. So spielt sich der Beginn der Inszenierung nicht etwa im Arbeitszimmer des Professor Martin Gollwitz (Christian Horn) ab, ebenso wenig im Deutschen Kaiserreich, wie es die Vorlage vorgibt. Stattdessen ist das Stück im Nachkriegs-Deutschland der 1950er-Jahre angesiedelt. Optisch trifft die von Brigitte Prinz und Markus Hirschberger inszenierte Aufführung dabei ins Schwarze. Karge, zerbombte Gemäuer und farblich bewusst triste Kostüme in den Reihen der Hintergrundcharaktere spiegeln die Nachwehen des Krieges wider, das fröhliche Auftreten der Menschen jedoch auch den langsam aufkeimenden Optimismus jener Ära.
Mittendrin trifft Theaterdirektor Emanuel Striese (Andreas Grimminger-Graša) auf Gollwitz. Letzterer hat als „Jugendsünde“ die Tragödie „Der Raub der Sabinerinnen“ verfasst. Als Striese über das Manuskript stolpert, scheint beiden geholfen zu sein: Der Regisseur benötigt ein neues Stück, Gollwitz eine Geldspritze. Gesucht und gefunden.

Mit Andreas Grimminger-Graša und Christian Horn ist dem Ensemble eine Punktlandung gelungen. Horns verschroben-neurotischer Gollwitz wandelt wunderbar zwischen dem Chaos und der Stimme der Vernunft. Die Rolle des Striese hätte grandios scheitern können: Überkandidelt, überlebensgroß und zu allem Überfluss auch noch stark sächselnd – doch Andreas Grimminger-Graša liefert hier von Anfang bis Ende eine absolute Glanzleistung ab. Sein Striese ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung, hier scheint es den Schauspieler Grimminger-Graša nicht mehr zu geben. Nur noch Striese. Bravo!
Apropos sächseln: Überhaupt wird bei den „Sabinerinnen“ viel mit Akzenten und Dialekten geliebäugelt. Die amerikanischen GIs erinnern an das Handyverbot während der Vorstellung („This is doch verboten in the theater because of the Urheberrechte!“), Haushälterin Rosa (Sylvia Heinrich) schwäbelt ebenso munter wie ihr Gemüt und Striese fällt es entsprechend schwer, den Sachsen in sich zu unterdrücken, selbst wenn er für die „Sabinscherinnen“ probt.
„Der Raub der Sabinerinnen“: Ein Stück im Stück
Da es sich bei dem Naturtheaterstück in Teilen um ein Stück im Stück handelt und obendrein noch eine Hommage an das Theater an sich ist, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und fiktiver Fiktion immer wieder. Das Ganze kulminiert schließlich in der von Striese geleiteten Aufführung der „Sabinerinnen“, welcher unter anderem Gollwitz beiwohnt, der wiederum inmitten des „echten“ Publikums im Naturtheater Platz nimmt. Was ist echt, was nicht – und was wird hier eigentlich gespielt? Die Antwort darauf ist nicht immer direkt greifbar, brüllend komisch ist das Ganze nichtsdestotrotz.
Auch der flammende Monolog von Striese, in dem er sich vor Gollwitz für das Schmierentheater verkämpft, kann durchaus als gezielte Hommage an das Naturtheater selbst gelesen werden. Von Eitelkeiten bei der Rollenbesetzung über lächerlich kurze Probenzeiten bis hin zu verunglückten Premieren – was das Theater Striese erlebt, ist dem Naturtheater sicher alles andere als fremd.

Bisweilen schießen die bewusst überzeichneten Rollen jedoch über das Ziel hinaus. Was man den Schauspielgruppe um Striese an Chargieren abnimmt, wirkt an andere Stelle schlichtweg übertrieben – „too much“ oder gar „over the top“, um an dieser Stelle die GIs zu imitieren. Dem Hin und Her zwischen Weinhändler Karl Gross (Michael Geisel) und Gollwitz’ Frau Friederike (Stephanie Seifert) sowie der gemeinsamen Tochter Marianne (Katja Börner) hätte beispielsweise ein Hauch weniger Extravaganz nicht geschadet.
Textvorlage auf zweieinhalb Stunden gestreckt
Ein Makel, über den auch die sonst großartige schauspielerische Leistung des Ensembles nicht hinwegretten kann, ist die Spieldauer. Es sind eben nur rund 60 Seiten Textvorlage, welche das Kreativteam auf gut zweieinhalb Stunden Spielzeit streckt. Daraus ergeben sich zwangsläufig Längen. Der Beginn des zweiten Aktes, der einem Kurzbesuch im „Grease“-Kosmos gleichkommt, zieht sich. Eine Schar junger Menschen, Deutsche wie amerikanische GIs, feiert und frohlockt darin drei Tanznummern lang bis zur Sperrstunde. Um die Szenerie zu etablieren, hätte eine Nummer allemal gereicht.
Allzu viel grämen muss sich deswegen jedoch keiner. „Der Raub der Sabinerinnen“ ist liebevoll inszeniert, detailreich ausgestattet und fabelhaft gespielt. 650 Zuschauerinnen und Zuschauer schienen sich am Premierenabend köstlich zu amüsieren. Bleibt nur noch eine finale Frage zu beantworten. Was war es denn nun? Schwank oder Schmiere? Ein bisschen was von beidem, wenn wir ehrlich sind. Ausnahmsweise, ja, ausnahmsweise gibt es zwei S-Wörter. Ein gutes und ein ziemlich gutes.