Sommerserie Wohnwelten

Die Krippe in Giengen: Wo einst der Fabrikant und die spätere Vogelmutter residierten

Gebäude mit Geschichte gibt es in Giengen noch einige. Wohnhäuser allerdings, die schon Anfang des 20. Jahrhundert als Kita dienten und prominente Besitzer hatten, sind auch in er ehemals freien Reichsstadt eine Rarität. Heute besteht das Haus an der Marktstraße aus zwei Wohnungen.

Im hinteren Bereich des Grundstücks, wo seinerzeit einer der Brenzarme verlief, wurde wahrscheinlich eine Kuh gehalten, auf deren Milch die Kinder nach dem Ersten Weltkrieg angewiesen waren: Von 1909 bis 1933 war das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Filzfabrik stehende Gebäude am unteren Ende der Marktstraße eine Krippe, in der Kleinkinder berufstätiger Frauen kostenlos ganztägig versorgt, gekleidet und verpflegt wurden. Geschultes Personal betreute etwa 20 Kinder täglich – in den 24 Jahren des Betriebs viele hundert Jungen und Mädchen aus Giengen und der Umgebung.

Der einstige Schriftzug ist heute wieder am Haus angebracht. Marc Hosinner

Heute wäre die Einrichtung so etwas wie ein firmeneigener Kindergarten, der gratis angeboten wird und mehr als nur Betreuung bietet. 1909 war ein derartiger Hort sicherlich etwas Besonderes.

Eine Aufnahme des Hauses um das Jahr 1900.

Möglich gemacht wurde die Krippe allerdings auch von hochgestellten Persönlichkeiten Giengens, die Unternehmergeist, Umweltverantwortung und soziales Engagement vereinten: Stifter war kurz vor seinem Tod Hans Hähnle, der Erfinder der maschinellen Filzherstellung, der die Filzfabrik in Giengen zum Weltmarktunternehmen machte. Seine Frau Lina ist Gründerin des heutigen Naturschutzbundes. Ihr oblag es, die Krippe zu leiten.

Lina und Hans Hähnle hatten nach dem Bau des Gebäudes durch Fritz Steiff – dem Bruder von Margarete Steiff – dieses 1870 bezogen. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Verkaufsraum für Filzwaren, die in der Fabrik auf dem Nachbargelände hergestellt wurden.

Weil Hähnle aber nicht nur Fabrikant war, sondern auch liberaler Reichs- und Landtagsabgeordneter, zog die Familie nach Stuttgart und behielt in Giengen einen Zweitwohnsitz an der Weinbergstraße

Wohnhaus wurde das Gebäude wieder nach der Schließung der Krippe, die, so ist zumindest in der Chronik der Stadt Giengen nachzulesen, aus finanziellen Gründen erfolgte.

Das Gebäude blieb allerdings im Familienbesitz und diente von 2003 an erneut einem sozialen Zweck als Schule und Tagesgruppe: Wie Wilfried Knöringer, Urgroßneffe von Lina Hähnle einst schrieb, sollte an die soziale Tradition der Familie und an die Zeit der Krippe angeknüpft werden. So wurde das Haus innen und außen mit großem Aufwand umgebaut. Auflagen wie Fluchttüren, Fluchttreppen, Rauchabzüge, Schul- und Aufenthaltsräume galt es zu erfüllen, damit eine Außenstelle der Karl-Döttinger-Schule, eine Einrichtung zur Erziehungshilfe, einziehen konnte. 

Eine Aufnahme der Krippe vor der Sanierung. Zirn

Knapp zehn Jahre dauerte dieses Kapitel des Gebäudes an, dann – nach dem Umzug der Schule – stand es leer, zum Verkauf und war der Kirchengemeinde angeboten worden. In diesem Zug kam Michael Zirn mit dem geschichtsträchtigen Gebäude in Kontakt. Schnell sei allerdings klar geworden, dass sich das Haus nicht als Raum für Jugendarbeit oder dergleichen eigne. Bei der Besichtigung hatten es ihm Details der Marktstraße mit der Hausnummer 80 aber angetan: die Steinböden etwa, die Türen, der Stuck an den fast drei Meter hohen Decken.

Selber kaufen kam für Zirn und dessen drei Kinder nicht infrage. Die Familie fand allerdings einen Investor, der das Haus an die Zirns fortan vermietete. Etwa drei Monate sei umgebaut worden. „Das war schon eine Generalsanierung“, erinnert sich Zirn. Wände wurden beispielsweise eingerissen und auf der Südseite eine große Gaube eingebaut.

Eine Aufnahme des Hauses nach der Sanierung. Zirn

Die Historie des Gebäudes sowie des Grundstücks und deren Besonderheiten seien erst nach und nach ins Bewusstsein gekommen: beim Bau des Carports und der gleichzeitigen Entdeckung einer Ufermauer der Brenz etwa, oder beim Ausbau des Obergeschosses zu einer weiteren Wohnung. Dort habe es ein einzelnes Zimmer gegeben, ebenfalls mit Stuck. Die Vermutung: es könnte sich um ein Gästezimmer gehandelt haben für Besuch des in prominente Kreisen verkehrenden Hähnle-Paares.

Ein Blick vom Wohn- in den Essbereich. Marc Hosinner

Eine weitere Besonderheit: Die Küche des Gebäudes ist einige Zentimeter höher als der Rest des Erdgeschosses, was mit dem Keller und dem Grundwasserspiegel zusammenhängt.

Die Steinböden haben es Michael Zirn bei der ersten Besichtigung sofort angetan. Marc Hosinner

Die Marktstraße 80, ist eines von ganz wenigen Häusern, das in Giengens Fußgängerzone über einen direkt angrenzenden Garten verfügt. „Das schätzen wir und auch Gäste sehr. Das Grundstück ist kaum einsehbar und bietet trotz des Einkaufszentrums gegenüber Ruhe“, sagt Zirn. Auch im Garten ist Geschichte erlebbar: dort steht ein Pavillon, der 130 Jahre alt ist. Nur von der Kuhhaltung finden sich keine Spuren mehr.

Der Garten der Krippe - mit einem 130 Jahre alten Pavillon. Zirn

Alle Teile der Sommerserie Wohnwelten auf einen Blick

Sie haben einen Teil verpasst oder noch keine Zeit gehabt, alle erschienen Artikel der Sommerserie Wohnwelten zu lesen? Kein Problem – hier finden Sie alle Beiträge der HZ-Serie auf einen Blick.

Jetzt einfach weiterlesen
Jetzt einfach weiterlesen mit HZ
- Alle HZ+ Artikel lesen und hören
- Exklusive Bilder und Videos aus der Region
- Volle Flexibilität: monatlich kündbar