Kita-Misere: Not macht erfinderisch: Aber ist das gut?
Kitas schließen wegen Personalmangels früher oder Eltern bekommen erst gar keinen Platz für ihre Kinder – wohin bloß mit dem Nachwuchs? Die Möglichkeiten von Eltern sind begrenzt. Sie können zu Hause bleiben und die Kinder selbst betreuen. Oder anderweitig Betreuung organisieren. Oder die Kommunen lassen sich Alternativen einfallen – zwangsläufig mithilfe weniger qualifizierter Kräfte.
«Das alles führt zu einer großen Nachfrage nach Tagesmüttern», sagt Katja Reiner vom Verband für Kindertagespflegeeinrichtungen. Vor allem in den sogenannten Randzeiten – vor oder nach den Öffnungszeiten von Kitas – springen Tagesmütter ihren Angaben zufolge immer öfter ein und unterstützen die Eltern bei der Versorgung der Kinder. Vor allem für Kinder ab drei Jahren, die eigentlich in eine Kita sollten, aber keinen Platz bekommen, sei der Bedarf groß.
«Ich könnte meine Plätze inzwischen doppelt und dreifach besetzen», sagt Tagesmutter Mirjam Knaus aus Östringen (Landkreis Karlsruhe). Gerade seien zwei Ganztagsgruppen einer Kita am Ort wegen Fachkräftemangels geschlossen worden. Die Nachfrage sei enorm, ihre Plätze seien bis 2025 ausgebucht.
Tagesmütter und -väter – sogenannte Kindertagespflegepersonen – durchlaufen keine professionelle, mehrjährige Ausbildung wie etwa Erzieherinnen und Erzieher. Stattdessen müssen sie 300 Fortbildungsstunden nachweisen, um eine sogenannte Pflegeerlaubnis zu erhalten. Sie arbeiten selbstständig – nicht zuletzt die damit behafteten Unsicherheiten sind der Grund, dass ihre Zahl seit Jahren sinkt. Inzwischen liegt sie nach Angaben des Kultusministeriums und des Statistischen Landesamtes bei etwa 6000.
Hinzu kommen etwa 1200 bis 1500 «passive» Tagespflegepersonen, sagt Reiner. Also solche, die aktuell nicht betreuen aus den verschiedensten Gründen, aber noch eine bestehende Pflegeerlaubnis haben, wie sie erläutert. Man sei sehr interessiert, diese Personen wieder zu «aktivieren». Denn Tagesmütter und -väter seien angesichts der Kita-Misere begehrter denn je.
Dass die Lage im Südwesten angespannt ist und nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2022 in diesem Jahr rund 57.600 Kitaplätze fehlen, ist nichts Neues. Zahlen dazu, wie viele Kinder 2022 keinen Kita-Platz bekamen, gibt es laut Kultusministerium und dem Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) nicht. Auch dass Kitas wegen des Fachkräftemangels ihre Öffnungszeiten verkürzen, ist bekannt – so geschehen in Tübingen, wo der Gemeinderat dies im Februar für das neue Kindergartenjahr ab September beschloss.
Gemeinden versuchen längst, die Missstände wenigstens durch Kooperationen mit Tageseltern und Tagespflegevereinen abzumildern. Sie treten verstärkt an sie heran, um zu überlegen, wie die Kinderbetreuung irgendwie verbessert werden kann: Indem Tagesmütter nach offizieller Schließung der Kita in die Kita kommen und dort die Randzeiten abdecken. Indem sich die Kommunen an den Kosten der für die Kinderbetreuung gemieteten Räumen beteiligen, damit die Tagesmütter diese nicht alleine stemmen müssen. Oder indem sie Platzpauschalen zahlen.
Auch andere Überlegungen gibt es, mit denen Gemeinden den Kita-Fachkräftemangel abzufedern versuchen: Tübingen hatte angekündigt, auch Studierende pädagogischer Fächer oder angehende Sportwissenschaftler anzuwerben. In Offenburg helfen nach dem «Offenburger Modell» Kräfte des Malteser Hilfsdienstes, das Ganztagsangebot von Kitas aufrechtzuerhalten. Vielerorts arbeiten auch sogenannte pädagogische Hilfskräfte, meistens Elternteile, die ohne spezielle Ausbildung die Kita-Fachkräfte unterstützen. Egal wie nett diese Hilfskräfte seien – dem Gedanken der frühkindlichen Förderung stehe diese Art der Kinderversorgung vollends entgegen, sagt auch Tagesmutter Knaus.
Gut für Tagesmütter sei, dass sich für sie die Bedingungen angesichts des dringenden Bedarfs verbessert hätten, sagt Reiner. Denn natürlich kämen die Kommunen den Tagespflegepersonen entgegen – schließlich könnten Eltern im Zweifelsfall ja auch klagen wegen der fehlenden Plätze und Betreuung. Den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gibt es seit 2013 und den für Kinder ab drei Jahren seit 1996.
Der Verband Kitafachkräfte Baden-Württemberg ist wegen der Zustände längst auf der Palme. Die Kitas seien massiv überlastet und kurz vor dem Kollaps. Die genannten Betreuungsalternativen kämen zwar irgendwie den Eltern zugute, die dann ihre Kinder versorgt wüssten. Auch seien etwa Tagesmütter natürlich eine wertvolle Ergänzung. «Aber wir sprechen hier doch von Verzweiflungslösungen, anstatt die Probleme wirklich anzugehen», sagt die Erste Verbandsvorsitzende Anja Braekow. Im Grunde passiere hier eine Entprofessionalisierung durch die Hintertür. «Es macht doch keinen Sinn, fachfremde Kollegen reinzuholen», sagt sie.
Nach Ansicht des Gemeindetags kann das Engagement der Städte und Gemeinden zwar das Angebot durch Kitas ergänzen, aber nicht ersetzen. «Das bedeutet, dass auch weiterhin dringend Lösungen für den Fachkräftemangel in Kitas gefunden werden müssen», erläutert eine Sprecherin. «Am besten wäre es, das System einfach mal gegen den Baum fahren zu lassen», sagt Braekow. Sie setzte sich erneut nachdrücklich dafür ein, den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz auszusetzen – und zwar den für die unter Dreijährigen genauso wie für den für die über Dreijährigen. «Wir können den nicht erfüllen.»