Die Fußball-Weltmeisterschaft ist jetzt schon die meistdiskutierte Sportveranstaltung aller Zeiten. Menschenrechtsorganisationen verurteilen die Situation von Gastarbeitern, Frauen und Homosexuellen im Ausrichterland Katar. In vielen Fußballkneipen werden die Spiele nicht gezeigt, zahlreiche Fans haben im Vorfeld zu einem Boykott des Turniers aufgerufen. ARD und ZDF übertragen die Spiele – an diesem Mittwoch ist die deutsche Nationalmannschaft erstmals gefordert.

Unsere beiden Redakteure haben zu der Frage, ob man die Spiele vor dem Fernseher verfolgen soll, unterschiedliche Meinungen.

Pro: Die WM gehört den Menschen und nicht der FIFA

Sportredakteur Dominik Florian meint: Die Weltmeisterschaft ist trotz des schwierigen Rahmens eine wichtige Bühne, die nicht der FIFA, Sponsoren und Regierungen überlassen werden sollte.

Sportredakteur Dominik Florian
Sportredakteur Dominik Florian
© Foto: Rudi Penk

Fast hätte ich es verpasst. Na ja, um ehrlich zu sein, habe ich die erste halbe Stunde des Eröffnungsspiels zwischen Katar und Ecuador verschlafen – zu spät eingeschaltet. Von der zweiten Halbzeit habe ich auch nicht viel mitbekommen. Aber: Ich schaue die WM.

Warum? Nicht, weil ich vom Fußball nicht genug bekommen kann. Als Sportredakteur hatte ich den Ball in den vergangenen Monaten oft genug rollen gesehen.

Trotzdem habe ich im Vorausblick auf das Turnier mein Italia-90-Panini-Album aus dem Keller geholt. Wenn ich darin blättere und sehe, dass ich beim damaligen Teilnehmer Kamerun, um das Album voll zu bekommen, ein Bild doppelt eingeklebt habe, bin ich wieder sechs Jahre alt. In meinen Deutschland-Trainingsanzug von der WM 1994 passe ich zwar nicht mehr hinein, ich erinnere mich noch bestens an ihn, ein wahrer Schatz. 1998 kam ein Trikot von Jamaika hinzu, 2002 schwärmte ich für den Senegal, 2006 für Mexiko.

Bühne für wichtige Botschaften

Und heute? Beeindruckt hat mich das Auftreten der iranischen Nationalmannschaft, das Schweigen bei der eigenen Hymne, obwohl die Spieler stolz waren, ihre Landesfarben zu tragen. Trotz aller Konsequenzen, die sich nach ihrem mutigen Protest zu fürchten haben werden. Diese Bilder und der Mut bleiben und wirken bei mir nach. Nicht eine Pseudo-Kapitänsbinde, die sowieso nicht getragen wird. Bei mir bleibt die Geschichte von Ecuadors Kevin Rodriguez hängen, der vor einem Jahr noch Amateur war, in der 2. Liga kickt und wie in einem Fußballmärchen im Eröffnungsspiel eingewechselt wurde. Ich danke den Fans vor Ort, die sich trotz aller Widerstände nicht scheuen, mit Fahnen und Bannern Botschaften für Vielfalt und Freiheit zu streuen.

„WM gehört keinem Verband“

Die WM gehört den Kindern, den sechsjährigen Bildersammlern, den Fußballfans, den Spielern und den Menschen. Die WM gehört keinem Verband, keiner Regierung, keinem Unternehmen, keinem Emir.

Mich ekeln die Funktionäre der FIFA an, mich beschämen die halbgaren Aussagen der DFB-Funktionäre über Werte und Menschenrechte. Ihnen darf man die Aufmerksamkeit nicht überlassen. Es gibt genug Dinge, die mich bei dieser WM zuschauen lassen. Ich freue mich auf die mutigen Iraner, kaufe mir vielleicht ein Trikot von Kevin Rodriguez und werde lächeln, wenn sich ein Sechsjähriger im Zeitungsladen ein Päckchen WM-Klebebildchen kauft. Ich schaue weiter und freue mich auf neue Geschichten, die den hässlichen Rahmen des Turniers (hoffentlich) überstrahlen werden.

Contra: Dieses Sportereignis toppt im negativen Sinne alles Vorangegangene.

Redaktionsleiter Marc Hosinner findet: Von dem schmutzigen Spiel, das die FIFA, Sponsoren und die Veranstalter in Katar treiben, will er keine Sekunde im TV sehen.

Redaktionsleiter Marc Hosinner
Redaktionsleiter Marc Hosinner
© Foto: Rudi Penk

Wenn die deutschen Kicker bei der Weltmeisterschaft gegen den Ball treten, ist es der perfekte Zeitpunkt, um im Supermarkt einkaufen zu gehen. Keine Schlangen an den Kassen, kein Gedrängel um Sonderangebote.

Bisher habe ich diese, mir in der Vergangenheit zugetragene Erfahrung, noch nicht selbst erleben können. Denn: Da saß ich selbst vor der Glotze, habe auf der Couch Bundestrainer gespielt. Diesmal ist alles anders. Hansi Flick muss es ohne mich richten. Das Eckige bleibt aus. Supermärkte: ich komme. Zum Großeinkauf.

„Gier, die keine Grenzen kennt“

Korrupte Funktionäre, Rolex-Schmuggler, die Lobby-Arbeit leisten, sklavenartige Zustände auf Stadien-Baustellen, Sitze mit Klimaanlagen drunter, weltfremde Verbandsvorsitzende, totgeschwiegene Arbeiter, die ums Leben kamen. Und über allem: die Gier, die offensichtlich keine Grenzen kennt.

Ich habe gelesen, dass an dieser WM Blut klebt. Stimmt. Dieses „Ereignis“ toppt im negativen Sinne alles Vorangegangene. Sogar das Gebaren rund um Olympische Spiele.

Ich finde: es reicht. Ich habe schlicht keine Lust mehr, Teil dieses Systems zu sein. Wer den Fernseher anmacht, ist nämlich genau das. Er gibt damit Sendern die Rechtfertigung der Übertragung und Sponsoren die Bestätigung fürs Bezahlen für Sende-Sekunden.

Auch Fußballer in der Plicht

Die Fußballer selbst, hört man immer wieder, können nichts dafür. Sie wollen ja nur spielen. So so. Das sehe ich anders. Die Kicker könnten aus meiner Sicht ruhig mal die Klappe aufreißen. Oder sich weigern, unter derartigen Umständen gegen den Ball zu treten.

So wie es aussieht, haben die Herren Profis fast ausnahmslos nicht nur den gleichen Frisör, sondern bis auf ganz wenige Ausnahmen auch den von der Presseabteilung verteilten Text mit ausweichenden Antworten brav auswendig gelernt. Na ja. Wer beißt schon in die Hand, die einen fürstlich füttert.

Mich ärgert das alles nicht mehr. Es widert mich eher an. Und es nimmt mir alle Freude, die der Fußball – dieses schöne Spiel – mit sich bringen kann.

Bleibt die Frage, ob es etwas bringt, sich dem Spektakel zu verweigern, bewusst auf Übertragungen zu verzichten? Ich will mich keinen Illusionen hingeben – wahrscheinlich nicht. Das Rad wird sich weiterdrehen. Nicht auszuschließen, dass die FIFA, wenn es sich bezahlt macht, irgendwann eine WM nach Nordkorea vergibt.

Ich jedenfalls bin raus. Wir Fußball-Romantiker sehen uns im Supermarkt.

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