Denn, auch wenn es manche verwundern mag, der Denksport boomt seit einiger Zeit so richtig. Und das liegt vor allem an Internet und Computertechnik. Die digitale Welt macht es möglich, dass sich Spieler jederzeit und überall messen, dass Talente mit absoluten Größen trainieren können, dass Turniere überall mitverfolgt werden können und dass die Preisgelder gestiegen sind.
Schach boomt dank online
Auch für Neil Albrecht ist der Umgang mit dem Online-Schach längst Normalität geworden. Der 14-Jährige trainiert nahezu jeden Tag und das meist über mehrere Stunden. Zu dem Sport kam er mit sieben Jahren über die Schach-AG an seiner Schule in Gerstetten, merkte dann bei den Nachwuchsturnieren des Schachkreises schnell, dass er ein Händchen für das so komplexe Spiel auf den 64 Feldern hat.
„Man kann einfach immer dazu lernen und ich liebe es, zu gewinnen“, beschreibt Neil seine Motivation. Die Duelle, Taktikaufgaben, ausgiebigen Studien, die er am Computer bestreitet, empfindet er dabei nicht als Arbeit, setzt auch keineswegs nur auf die Online-Welt. „Ich habe auch viele Bücher über Schach, man kann von den alten Meistern viel abschauen“, sagt Neil, der zuerst für Heuchlingen spielte, sich dann dem SK Sontheim anschloss, dem seit vielen Jahren führenden Verein im Kreis. Seinen Stil beschreibt er selbst als „dynamisch, aber auch positionell“ und nennt als Vorbilder den amerikanischen Großmeister Hikaru Nakamuro oder Jan Gustafsson, den deutschen Bundestrainer.
Bei der vierten deutschen Meisterschaft hat’s geklappt
Und es ging rasch aufwärts, über Bezirks- und württembergische Meisterschaft qualifizierte sich Neil vor vier Jahren erstmals für die deutschen Titelkämpfe. Die werden immer im Zwei-Jahres-Rhythmus durchgeführt, es gibt also in jeder Altersklasse einen jüngeren und einen älteren Jahrgang. Beim ersten Auftritt in der U12 holte er Rang 20, im zweiten Jahr wurde er schon Achter. In der U14 reichte es vergangenes Jahr zu Platz elf, dieses Mal hatte sich der junge Gerstetter, der laut Wertungszahl an Position vier gesetzt war, einen Platz im Vorderfeld ausgerechnet.
Nervenstark in der Schlussrunde
Die Favoriten waren andere, allen voran Alfred Niemitz vom USV Potsdam, der bereits auf eine Elo-Wertung von 2315 kommt. Neil (2131 Punkte) startete aber mit vier Siegen souverän ins Turnier und übernahm die Führung. Diese verteidigte er in Runde fünf mit einem Remis gegen Niemitz, gewann danach und spielte nochmals unentschieden. Durch eine Niederlage in der vorletzten Runde wurde es aber eng, Neil musste die abschließende Partie gewinnen. Ganz nervenstark schob er seinen Gegner Arthur Dodul zusammen und sicherte sich mit sieben Punkten Rang eins.
Man kann einfach immer dazu lernen und ich liebe es, zu gewinnen.
Neil Albrecht
Damit endete eine anstrengende Woche. Bei der DM wurden an den meisten Tagen zwei Runden ausgetragen, die Vorbereitung nahm jeweils rund zwei Stunden in Anspruch, dazu kam die Analyse der vorherigen Partien. So war Neil Albrecht, der von seinen Trainern IM Tobias Kölle und FM David Ortmann betreut wurde, von sieben Uhr bis spät in die Nacht beschäftigt. „Das ist absoluter Hochleistungssport“, sagt sein Vater Tobias, der zusammen mit Mutter Tanja sowie Neils Brüdern Conner und Noah ebenfalls nach Willingen gereist war. Die Albrechts sind längst große Fans ihres sportlichen Juniors geworden, haben am Brett aber bis auf Conner selbst keine sportlichen Ambitionen.
Im Konfettiregen aufs Siegerpodest
Die DM war nicht nur anstrengend, sie wurde auch mit einer Organisation und Präsentation ausgetragen, die sich vor anderen Sportarten nicht mehr verstecken muss. Dazu gehörten nicht nur Sportmöglichkeiten, zahlreiche Vorträge und ein eigens reserviertes Hotel, am Ende holte Neil Albrecht in der Messehalle zum selbst gewählten Song im Konfettiregen seinen Siegerpokal ab.

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Könner am Brett in die Ecke weltfremdes Genie oder hochintelligenter Sonderling gesteckt werden. „In meiner Klasse finden es die meisten gut, dass ich so spielen kann“, sagt Neil Albrecht, der das Heidenheimer Max-Planck-Gymnasium besucht. Lässig auftretende Großmeister und Großmeisterinnen oder die Netflix-Serie „Das Damengambit“ tragen ebenfalls dazu bei, dass Schach heutzutage schon mal als sexy gelten kann.
Betrug am Rechner
Die moderne Schachwelt hat aber auch ihre Schattenseiten. Längst sind die Computer den Menschen weit überlegen, kaum eine Woche vergeht ohne Betrugsvorwürfe. Inzwischen sind die Kontrollen sehr streng, Handy, digitale Uhren verboten, es gibt Stichproben mit Metalldetektoren, aber der Fantasie sind im Cheating eben auch kaum Grenzen gesetzt.
„Das ist schon ein Problem, man kann ja quasi mit jedem Handy heute den Weltmeister schlagen“, weiß Neil Albrecht. Er hat selbst keine Angst, seine Gegner könnten am Brett unerlaubte Hilfsmittel benutzen, hat auch noch keinen Fall miterlebt. Anders sieht es natürlich bei Online-Spielen aus, da wisse man nie, ob ein zweiter Computer mitläuft. Wenn es um wichtige Titel geht, so erklärt Neil Albrecht, müssen die Teilnehmer schon mal mehrere Kameras installieren, durch die sie beobachtet werden.
Nächstes Ziel: Fide-Meister
Wie soll es nun weitergehen, bei Neil Albrecht, dem der DM-Titel die Qualifikation für die Welt- oder die Europameisterschaft der U14 einbrachte? Ob er die WM im Oktober in Albanien und die EM im November in Montenegro besucht, darf er sich dabei selbst aussuchen. „Ich möchte noch in diesem Jahr Fide-Meister werden und Großmeister wäre schon cool“, sagt der 14-Jährige. Diese Titel werden für entsprechende Leistungen vom Weltschachverband vergeben, dazwischen gibt es noch den Internationalen Meister.
Vielleicht widme ich mich nach dem Abitur mal ein, zwei Jahre komplett dem Schach, aber man sollte schon immer einen Plan B haben.
Neil Albrecht
Prinzipiell könnte es Neil vorstellen, tatsächlich Schachprofi zu werden, er plant aber auch eine berufliche Karriere. „Vielleicht widme ich mich nach dem Abitur mal ein, zwei Jahre komplett dem Schach, aber man sollte schon immer einen Plan B haben“, sagt Neil. Bisher haben er und seine Familie fast nur in den Sport investiert, auch seine Trainer, die er übers Internet gefunden hat, müssen natürlich bezahlt werden. Inzwischen ist Schach populärer und zum Teil auch gut dotiert – dennoch muss man ziemlich weit aufsteigen, um wirklich davon leben zu können. Und die Konkurrenz ist hart, allein in Indien, wo Viswanathan Anand im Jahr 2000 mit seinem WM-Sieg einen ungeheuren Boom auslöste, gibt es unzählige Talente.
Für Sontheim in der Oberliga
Beim Blick auf die anderen Titelträger der Jugend-DM in Willingen liest man viele Namen internationaler Herkunft. Gerade hier wird dieser Sport oft schon in jungen Jahren mit professionellem Ehrgeiz betrieben. Neil Albrecht sieht es aber locker, für ihn ist bei allem Training der Spaß am Schach die treibende Kraft und vielleicht bleibt er gerade deshalb auf Erfolgskurs.
Zumindest in der nächsten Saison bleibt er auch dem SK Sontheim treu, dessen erste Mannschaft ja gerade in die Oberliga aufgestiegen ist. „Sie haben mich dort immer gefördert, auch schon früh hochklassig spielen lassen, ich fühle mich dort wirklich wohl“, lobt Neil Albrecht „Deutschlands größten Dorfverein“.
Im Schach geht es um Elo-Punkte
Im Schach gibt es seit vielen Jahren die sogenannte Elo-Wertung (benannt nach dem amerikanischen Physiker Arpad Elo), nach der die Weltrangliste erstellt wird. Analog dazu wird in Deutschland die DWZ (Deutsche Wertungszahl berechnet). In der Elo-Liste führt weiter Ex-Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen, der seinen Titel zuletzt nicht mehr verteidigen wollte. Er kommt auf 2837 Punkte, Zweiter ist Hikaru Nakamura (2804), der aktuelle Weltmeister Dommaraju Gukesh aus Indien ist mit 2776 Zählern Fünfter, ist aber auch erst 18 Jahre alt. Als bester Deutscher wird Vincent Kaymer (2730) auf Rang 22 geführt, Neil Albrecht steht bei Elo 2131.