So ist das mit Vorschriften. Man kann sie befolgen oder nicht. Wenn es um die Wahl eines Bürgermeisters geht, wird jede Kommune peinlich genau nach den Regeln der Gemeindeordnung verfahren. Wenn es um die Beteiligung Jugendlicher am kommunalpolitischen Geschehen geht, scheint der dort verankerte Paragraf 41 mit blasser Tinte geschrieben zu sein. Sonst könnte das Wort Muss nicht so beharrlich übersehen werden. Jugendliche müssen, wenn es um kommunale Planungen und Vorhaben geht, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligt werden. So sagt es das Landesrecht.
Die Schwachstellen der Vorschrift liegen in zwei Worten: Interessen und angemessen. Was sind schon die Interessen der Jugendlichen und was ist angemessen? Noch 2018 hat jede zweite Gemeinde im Land schlicht gar nichts gemacht in Sachen Jugendbeteiligung. Sanktionen brauchen sie deswegen nicht zu fürchten, Folgen freilich schon.
Wie sollen Alt und Jung sich nahe kommen?
Der Altersdurchschnitt in den Gemeinderäten bringt es mit sich, dass fast jedes dieser Gremien einen Seniorenrat in sich birgt. Mit dem reifen Alter der Stadträte liegt viel kommunalpolitische Kenntnis auf der Waagschale und eine ebenso schwere Portion politischer Erfahrung. Doch kann beides das Unwissen über die Interessen Jugendlicher und die Trennschranke von zwei Generationen aufheben? Bei Kommunalwahlen dürfen Jugendliche ab 16 abstimmen. Im Rat sitzt vorwiegend die Altersgruppe ihrer Großeltern.
Wie sollen sich Alt und Jung nahekommen? Das Landesgesetz sagt es ja: durch Beteiligung. Vieles ist da möglich. Vom schwerfälligen Jugendgemeinderat bis zu spontanen Runden haben Bürgermeister und Gemeinderäte maximalen Spielraum, wenn sie mit Jugendlichen ins Gespräch kommen wollen.
Die Erstwähler sind nicht die eifrigsten Wähler. Bei der EU-Wahl 2019 war es die Gruppe der 60- bis 69-Jährigen. Zwei von drei sind zum Wählen gegangen. Die Jugend habe kein Interesse an Politik, heißt es da gleich. Nur wurde es geweckt? Auch außerhalb des Gemeinschaftskundeunterrichts? Ist es richtig zu sagen, wir warten bis die Jugendlichen auf uns zukommen? Und wenn sie nicht kommen, und auch die 20-Jährigen nicht und nicht die 30-Jährigen? Wenn das Rathaus nicht mehr als Ort der kommunalen Selbstverwaltung angesehen wird, nicht mehr als Hort demokratischer Willensbildung, sondern nur noch als Standesamt, Passausgabe und Bußgeldstelle?
Demokratie muss gelebt werden
Reihum gibt es eine Renaissance der Diktaturen. Bürger verzichten auf ihre Rechte und huldigen ihren Machthabern, die ihnen ihre Macht genommen haben. Es bleibt das tiefste deutsche Trauma, das Führer-Modell in seiner perversesten Form vorexerziert zu haben. Aber wissen wir nicht deshalb heute umso gewisser, dass nur in einer Demokratie ein freies Leben geführt werden kann?
Doch eine Demokratie gibt es nur, wenn man sie lebt. Sie steckt nicht in klugen Büchern, sie offenbart sich nicht in Reden und sie nährt sich auch nicht von diesen, hier geschriebenen Buchstaben. Demokratie ist Teilhabe. Und diese muss früh beginnen. Das Wort Muss im Landesgesetz heißt nicht Soll. Es steht in der Verantwortung der älteren Demokraten, diese Demokratie jung zu halten. Das ist eine Bringschuld.
Herbrechtingen