Heiliger Bimbam (10 von 17)

In Herbrechtingen kann man etwas sehen, wofür man sonst in Urlaub fährt

In Herbrechtingen kann man etwas sehen, wofür man sonst in Urlaub zu fahren pflegt: Hier hängen die Glocken nicht im Kirchturm, sondern in einem Campanile.

In Herbrechtingen kann man etwas sehen, wofür man sonst in Urlaub fährt

Man sieht sie nicht – aber sie sind weithin zu hören. Kirchenglocken erklingen in jeder Stadt und in jedem Dorf, manche davon schon seit vielen Jahrhunderten. Die ältesten noch erhaltenen Exemplare im Landkreis betrachten wir im Rahmen einer Serie, die unsere Glöckner heute nach Herbrechtingen führt, wo man sich eigentlich italienischer fühlen darf als sonst irgendwo in der Gegend.

Und das liegt am Campanile. Ja, richtig gelesen. Nicht nur Venedig, Pisa und andere italienische Städte bergen in ihren Mauern einen freistehenden, vom Kirchenbau losgelösten Glockenturm. Auch Herbrechtingen hat einen. Das ist vielleicht nicht einmal allen Herbrechtingern so recht bewusst, die spontan einen Campanile wohl auch eher auf dem Markusplatz als an der Langen Straße suchen würden. Tatsache bleibt es trotzdem. Und eine Seltenheit in deutschen Landen. Erst recht in schwäbischen. „Diese Form eines Glockenturms ist im schwäbischen Raum einzigartig“, berichtet die freie Enzyklopädie Wikipedia über den Campanile von – Schwäbisch Gmünd. Das kann man so wohl nicht länger stehenlassen.

Der Gmünder Campanile, ein romanisches Gebäude aus dem Jahr 1228, beherbergt übrigens die Glocken des Heilig-Kreuz-Münsters, dessen beide Türme in der Karfreitagnacht des Jahres 1497 eingestürzt waren. Die Glocken wurden dabei nur leicht beschädigt und wieder geflickt in ihr neues Domizil in Sichtweite des Münsters gebracht, wo sie bis heute geläutet werden.

Die Geschichte des Herbrechtinger Campanile trägt ähnliche Züge. Gerhard Krämer, der unsere Glockentester dort empfängt, erzählt, dass es sich bei dem heute als Glockenturm genutzten Gebäude um das Torhaus des ehemaligen Klosters handelt, das 1449 bei einem wohl offiziell kirchenpolitisch motivierten Brandschatzen der lieben Nachbarn aus Giengen beschädigt und 1452 wiederaufgebaut worden war. Ob er hernach sofort oder doch erst später als Glockenturm für die Klosterkirche verwendet wurde, ist nicht geklärt. Zwar verfügte die Klosterkirche ursprünglich über einen Turm. Spätestens auf Darstellungen von Anfang des 17. Jahrhunderts aber fehlt dieser. Wie er abhanden kam, ob durch Abbruch oder Einsturz, ist ungewiss.

Der wirklich höchst imposante Glockenstuhl in Herbrechtingen stammt aus dem Jahr 1663. Insofern könnte man also vermuten, dass er erst seit dieser Zeit als Campanile genutzt wird. Auf der anderen Seite wiederum stammt die älteste Glocke aus dem Jahr 1500. Es wäre also auch vielleicht möglich, dass die Benutzung als Glockenturm schon aus den Tagen nach dem Giengener Überfall und dem Wiederaufbau des Turmes herrührt. Man weiß es nicht.

Was man allerdings weiß, ist, dass die Glocke von 1500 ausgerechnet in Giengen gegossen wurde. Und zwar in der Werkstatt von Jerg Kastner junior, dem Sohn des älteren Kastners, der von 1471 bis 1495 in Giengen als Glockengießer tätig war und dem als solcher der Sohn, der sich 1509 in Ulm niederlassen sollte, folgte. Von beiden Jergs, Iergs oder Jörgs war im Verlauf dieser Glockentournee schon bei den Etappen nach Dettingen und Gerstetten die Rede gewesen. Und hier in Herbrechtingen begegnen sie uns nicht zum letzten Mal.

Die Herbrechtinger Kastner-Glocke ist mit einem Gewicht von 900 Kilo die schwerste der historischen Glocken im Landkreis. Ihr Schlagton ist g, wobei man an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen sollte, dass es sich beim Schlagton einer Glocke um einen subjektiven Tonhöheneindruck handelt. Der Schlagton ist also kein physikalisch messbarer Ton, sondern wird, sehr, sehr verkürzt formuliert, vom menschlichen Ohr virtuell aus dem Zusammenklang von bestimmten Teiltönen der Glocke gebildet.

Die Inschrift auf der Herbrechtinger Glocke beinhaltet das Gussjahr 1500 – wobei die 5 seinerzeit so ausgeführt wurde, dass man sie heute als 4 lesen würde, während die 4 damals als nach unten offene halbe 8 dargestellt wurde. Darüber hinaus lesen wir die vier Evangelistennamen sowie zusätzlich „Sant dionisius“. Aus letzterer Tatsache kann gefolgert werden, dass sie wohl nicht zufällig in Herbrechtingen hängt, sondern gezielt für die Klosterkirche dort gegossen wurde, die seit jeher Sankt Dionysius geweiht ist. Denn bekanntlich hatte am 7. September 774 Karl der Große den Flecken Herbrechtingen seinem obersten Kaplan, dem Abt Fulrad von Saint-Denis bei Paris, geschenkt, der hier ein Kloster gründete und die Pfarrkirche dem heiligen Dionysius weihte.

Dionysius (französisch Denis) von Paris war Missionar in Gallien und um 250 der erste Bischof von Paris, der auf Befehl des römischen Gouverneurs enthauptet wurde. Die Legende berichtet, dass Dionysius auf dem Richtplatz am Montmartre seinen abgeschlagenen Kopf aufgenommen, an einer nahen Quelle gewaschen und mit ihm unter dem Arm sechs Kilometer Richtung Norden bis zu der Stelle marschiert sei, wo er begraben werden wollte. An diesem Platz baute der fränkische König Dagobert I. 626 die dem Heiligen geweihte Abtei und Basilika Saint-Denis, die den französischen Königen als Grablege diente. Dionysius wird in der römisch-katholischen und anglikanischen Kirche als Heiliger verehrt und ist der Nationalheilige Frankreichs. Er ist einer der sogenannten 14 Nothelfer und wurde traditionell gegen Kopfweh angerufen.

Auf der Innenseite der Kastner-Glocke kann man noch erkennen, dass hier einmal mit Fettstift „Herbrechtingen“ aufgemalt war. Dies rührt wiederum daher, dass die Glocke 1942 zu Kriegszwecken abgegeben werden musste. Sie konnte anhand der Beschriftung wiedergefunden werden und kam so Ende der 1940er-Jahre wieder in ihren Campanile, dessen Glockenstube sie mit zwei jüngeren Schwestern teilt, die 1952 bei Heinrich Kurtz in Stuttgart gegossen wurden.

Als schwerste der historischen Glocken im Landkreis Heidenheim bringt, dies wurde bereits erwähnt, die Herbrechtinger Glocke 900 Kilogramm auf die Waage. Als größte an einem geraden Joch freischwingende Glocke der Welt gilt der im Kölner Dom hängende „Decke Pitter“, der 1924 von der Firma Ulrich in Apolda gegossen wurde und 24.000 Kilo wiegt. Diese Weltbestleistung muss der dicke Peter wohl 2018 abgeben. Der Rekordbrecher, der in der noch im Bau befindlichen Kathedrale der Erlösung des Volkes in Bukarest Dienst tun soll, wurde bereits bei Grassmayr in Innsbruck gegossen und wiegt 25.190 Kilo.