Wieder einmal stehen wir kurz vor dem Jahreswechsel. Das ist die Zeit, in der sich viele Menschen Gedanken darüber machen, was sie sich vornehmen wollen fürs folgende Jahr. Doch warum gibt es überhaupt gute Vorsätze? Antworten darauf weiß die Heilpraktikerin für Psychotherapie, Bernadette Mader. Sie führt seit 22 Jahren eine psychologische Beratungspraxis in Heidenheim.
Frau Mader, hatten Sie sich für dieses Jahr etwas vorgenommen?
Ja.
Darf ich fragen, was?
Ich hatte mir vorgenommen, gelassen zu sein, zufrieden zu sein mit dem, was ich habe und wie es ist.
Hat es geklappt?
Ziemlich, nicht immer. Manchmal kam auch der Wunsch, es noch besser hinzubekommen.
Warum fassen Menschen überhaupt gute Vorsätze? Sind sie mit sich und ihrem Leben unzufrieden?
Ich glaube, sich etwas vorzunehmen, kommt aus zwei menschlichen Bestrebungen heraus, die wir alle haben.
Welche sind das?
Die eine ist der Wunsch, glücklicher zu sein als man sich im Moment fühlt. Die andere ist, so vermute ich, besser zu sein als man es gerade ist.
Was ist mit „besser“ gemeint?
Erfolgreicher, liebenswerter, schöner, sportlicher, anerkennenswerter als bisher.
Um sich etwas vorzunehmen, muss man aber nicht unzufrieden sein?
Nicht unbedingt. Aber wir haben als Menschen die Fähigkeit, zu reflektieren, darüber nachzudenken, wie unser Leben ist, und das machen wir oft zum Ende des Jahres. Wie verlief das Jahr? Wie ist mein Leben? Und dann stellt man sich vor, was man gerne anders haben möchte.
Ist es das natürliche Streben des Menschen, voranzukommen?
Ich glaube schon. Es ist ganz natürlich, vorankommen zu wollen, sich in der Persönlichkeit zu entwickeln, Wünsche zu haben, Ziele anzustreben, manche nennen das heute auch Selbstoptimierung.
Also nimmt sich jeder Mensch etwas vor?
Vermutlich ja, ob ausgesprochen oder unausgesprochen und nicht nur zu Silvester. Fast jeder von uns blickt in die Zukunft und lebt nicht nur im Hier und Jetzt.
Wir stehen ja kurz vor dem Jahreswechsel. Warum nehmen sich so viele Menschen gerade zu diesem Zeitpunkt etwas vor?
Es ist die Zeit der Wintersonnenwende, schon die Germanen feierten den Beginn der längeren Tage und befragten die Orakel, um in die Zukunft zu schauen. Wir führen diesen tradierten Brauch weiter fort, indem wir Rückschau halten und neue Pläne schmieden, zu Silvester Blei gießen, Vorsätze und gute Wünsche zum neuen Jahr aussprechen.
Man spricht immer von guten Vorsätzen. Gibt es eigentlich auch schlechte?
Nein, ich glaube nicht. Ein schlechter Vorsatz könnte sein, weniger zu arbeiten, also fauler zu sein. Aber im Grunde ist das ja ein guter Vorsatz, denn er könnte dazu dienen, dass wir entspannter leben und gesünder, zudem liebenswerter und weniger gestresst sind.
Was passiert mit uns, wenn wir es nicht schaffen, unsere Vorsätze umzusetzen? Sind wir dann enttäuscht oder stecken wir das einfach weg, weil wir es schon so oft erlebt haben?
Das hängt vom Persönlichkeitstyp ab. Manchen ist das egal, oder sie nehmen es mit Humor, viele sehen das Misslingen als gute Lernerfahrung und versuchen es zuversichtlich erneut. Andere dagegen empfinden das Scheitern des Planes als persönlichen Misserfolg. Diese nehmen es dann zum Anlass, sich selber abzuwerten, sie fühlen sich schwächer oder unfähiger als andere oder gar als Versager. Jeder könnte lernen, sein Scheitern als sehr menschlich hinzunehmen. Wir sind Menschen, und es gelingt uns einfach nicht alles. Anstatt den vielen Ansprüchen von außen gerecht werden und sich weiter optimieren zu wollen, können wir das eigene Scheitern liebevoll annehmen und damit uns selbst. Eine gute Maßnahme gegen Perfektionismus.
Sich vorzunehmen, das Scheitern zu akzeptieren, kann ja auch ein guter Vorsatz sein.
Ja, natürlich. Wenn etwas nicht gelungen ist, ist es gut, sich nicht selbst niederzumachen. Ich beobachte oft, dass viele Menschen mit sich selber zu streng sind.
Ist das ein Problem?
Ja, denn Strenge mit sich selbst führt meist zu großem seelischen Stress.
Was passiert mit uns, wenn unsere Vorsätze glücken?
Dann gewinnen wir an Selbstbewusstsein, wir vertrauen uns selbst und dem Leben und sind sehr motiviert, weiterzumachen. Wir glauben, dass uns auch weitere Vorhaben gelingen werden. Und das Wichtigste ist: Wir haben ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Was bedeutet das?
Selbstwirksamkeit gibt einem Menschen das Gefühl, in seinem Leben selbst etwas wollen und bewirken zu können und nicht hilflos Opfer der äußeren Umstände oder der eigenen Lebensgeschichte zu sein.
Führt ein umgesetzter Vorsatz nicht auch dazu, dass wir uns immer mehr vornehmen?
Gute Frage. Die Gefahr ist da, dass es auch eine Art Sucht wird, sich immer weiter zu perfektionieren. Am Ende findet man dann keine Zufriedenheit mehr mit dem, wie es ist.
Gibt es Vorsätze, die man nicht fassen sollte?
Ein guter Vorsatz ist immer gut. Doch Vorsätze sollten realistisch, im Bereich des Möglichen sein, um nicht in einen Zustand der gefühlten Hilflosigkeit zu geraten.
Gibt es Tipps, wie man Vorsätze umsetzen kann? Nehmen wir das Beispiel, mit dem Rauchen aufzuhören.
Es hilft, sich das Positive vorzustellen. Wir halten oft an Dingen fest, egal, wie schlecht sie für uns sind, weil wir nicht wissen, was kommt. Wir haben mehr Angst vor dem Unbekannten als Mut zum Wagnis. Ein Leben ohne Zigarette könnte ja schrecklich sein, unvorstellbar. Stellen Sie sich stattdessen vor, dass Sie besser atmen können, gut riechen, dass Sie viel Geld sparen und nicht ständig überlegen müssen, wie viele Zigaretten Sie noch im Vorrat haben und ob Sie nicht Ihrer Gesundheit schaden. Stellen Sie sich vor, dass Sie viel freier sind, unabhängig, ruhiger, gesund und stark. Das hilft sehr, so habe ich vor Jahren auch mit dem Rauchen aufgehört.
Macht es Sinn, sich Vorsätze zu notieren, um sich daran zu erinnern?
Ja, das macht Sinn und wichtig ist auch, zu überlegen, warum wir etwas wollen. Nehmen wir nochmal die Beispiele rauchen und zu viel arbeiten. Welcher wirkliche Grund liegt unter der augenscheinlichen Gewohnheit und der angeblichen Notwendigkeit? Fragen Sie sich: Was lässt mich diese destruktive Handlung immer wieder ausführen? Kenne ich meine tieferliegenden Beweggründe, bekommt der gute Vorsatz vermutlich eine neue Dimension.
Gibt es auch Menschen, die sich nichts vornehmen?
Ja, die gibt es auch. Die leben vor sich hin, wollen nichts verändern, denn das könnte anstrengend sein.
Ist das gut oder schlecht, sich nichts vorzunehmen? Der Vorteil ist: Man kann nicht scheitern.
(lacht) Ja, das stimmt. Aber man stellt sich auch keiner Herausforderung. Wenn wir Vorsätze fassen, begeben wir uns auf den Weg der Persönlichkeitsentwicklung, und dazu sind wir da. Meiner Ansicht nach sollten wir unsere Lebenszeit nutzen, um uns nicht nur mit unserer Leistung, sondern auch mit unseren Wünschen, Hoffnungen und unserer Sehnsucht immer weiter auszuprobieren.
Sind Menschen ohne Vorsätze nicht glücklicher als die anderen?
Das ist schwer zu sagen. Natürlich gibt es Menschen, die sind zufrieden mit ihrem Leben, sie brauchen keine Vorsätze, sind „wunschlos glücklich“. Das ist eine feine Sache.
Sind die häufigsten Vorsätze materieller oder persönlicher Art?
Ich denke, persönlicher Art, für sich selber ein Ziel zu erreichen, im Bereich der Gesundheit oder der sozialen Beziehungen: Mehr Sport treiben, abnehmen, mehr auf Gesundheit und Ernährung achten. Mehr Zeit haben für die Familie, für Freunde, für sich selbst, neue Menschen kennenlernen. Letzteres dient dem sozialen Wohlbefinden, das meist angestrebt wird. In meiner Praxis erlebe ich, dass die meisten inneren Konflikte und seelisches Leid dadurch entstehen, dass es so schwierig ist, gut miteinander auszukommen, sei das im Beruf, in der Familie oder im Freundeskreis.
Materielles spielt also keine Rolle?
Manche wollen schon erfolgreicher sein, mehr Geld verdienen, größere Anschaffungen machen, aber das fällt weniger unter die Vorsätze.
Haben Sie Empfehlungen für gute Vorsätze?
Die größte Empfehlung, die ich geben kann, ist, liebevoll mit sich selbst und anderen umzugehen, viel mehr Verständnis für sich und andere zu haben. Ein guter Vorsatz könnte auch sein, besser auf die eigenen Emotionen zu achten, darauf zu hören und zu fühlen, was gerade in mir vorgeht.
Und was nehmen Sie sich vor fürs kommende Jahr?
Ähnliches wie für dieses Jahr. Zufrieden zu sein mit dem, was ich habe und was ich bin. Und ich möchte freundlich sein. Freundlichkeit, anderen und uns selbst gegenüber, gehört zu den besten Dingen, die wir der Welt geben können.
Dieser Artikel ist teil der HZ-Serie zum Thema Gute Vorsätze für 2023.