Die letzte Mail ist abgeschickt, der Rechner heruntergefahren, die Bürotür fällt ins Schloss. Endlich Feierabend – oder? Vielen Menschen fällt es schwer, nach getaner Arbeit abzuschalten. Selbst in den Abendstunden kreisen ihre Gedanken oft noch um den Job. Nicht wenige nehmen sich daher gerade zum Jahreswechsel vor, vor allem nach der Arbeit mehr zur Ruhe kommen. Wie kann das gelingen? Und warum ist es gefährlich, wenn es das nicht tut? Antworten auf diese Fragen liefert Dr. Viktoria Schenkengel. Sie betreibt in Heidenheim die Praxis Praeventi, die sich unter anderem mit Betriebsmedizin befasst.
In den vergangenen Jahren hat sich bei ihr vor allem eine Erkenntnis verfestigt: Psychische Belastung durch den Beruf hat zugenommen, vor allem im Zuge der Pandemie. Ein stetig ansteigendes Arbeitspensum, im Gegenzug immer weniger Wertschätzung – die Gründe für diese Entwicklung sind breit gefächert. Ebenso die daraus resultierenden Symptome. „Psychische Belastung, das Nicht-Abschalten-Können, das erkennt man oftmals nicht direkt als das Hauptproblem“, erläutert Schenkengel.
Rund 70 Prozent der Menschen, die unter psychischem Stress stehen, würden demnach zunächst organische Schäden aufweisen. So haben etwa Rückenschmerzen oft keine rein physischen Ursachen, sondern sind vielmehr ein Zeichen von Überarbeitung. „Schlafstörungen sind jedoch meistens das erste Anzeichen dafür, dass man nicht mehr abschalten kann“, erklärt die Medizinerin. „Wenn einen das Arbeitspensum belastet, funktioniert man im Beruf nicht mehr so gut, schläft nicht mehr so gut und kann sich infolgedessen auf der Arbeit nicht mehr so gut konzentrieren. Es ist ein Teufelskreis.“
Tipps, um nach Feierabend besser abschalten zu können
Erkennen ist das eine, doch wie kommt man nach Feierabend letztlich mehr zur Ruhe? Laut Arbeitspsychologinnen und -Psychologen sind es oft die kleinen Dinge, die dazu beitragen. Gerade im Home Office empfehlen sie eine bewusste Trennung von Berufs- und Privatleben. Soll beispielsweise heißen: die Jogginghose erst nach Feierabend anziehen oder wenn möglich in den eigenen vier Wänden einen designierten Bereich ausschließlich fürs Arbeiten einrichten. Feste Rituale können die bewusste Unterbrechung unterstützen. Und selbstverständlich ist es kontraproduktiv, nach Feierabend geschäftliche Mails zu sichten oder Telefonate zu führen – egal wie kurz diese sind.
Um Stress zu reduzieren und den Kopf abends frei zu bekommen, bedarf es laut Schenkengel vor allem präventiver Maßnahmen. „Dabei muss man zwischen Verhältnisprävention und Verhaltensprävention unterscheiden“, erklärt die Fachärztin. Verhaltensprävention bezieht sich unmittelbar auf den einzelnen Menschen und dessen individuelles Gesundheitsverhalten – sprich: all das, was man selbst in der Hand hat. Dazu zählen, wenig überraschend, Bewegung und eine ausgewogene Ernährung. „Eine gesunde Pause ist wichtig“, so Schenkengel. „Eine, in der man nicht nur sitzt und auf das Handy schaut. So lächerlich das für manche klingen mag: Ich empfehle Powernapping.“
Infrarotkabine und Massagerolle im Büro
Auf der anderen Seite von Stressvorbeugung steht die Verhältnisprävention. Sie berücksichtigt unter anderem die Lebens- und Arbeitsverhältnisse, wie die eigene Wohnumgebung oder auch die Ausstattung der Arbeitsplatzes. In diesem Bereich wird Viktoria Schenkengel als Betriebsärztin aktiv. Denn Stress zu reduzieren und damit die generelle Gesundheit von Arbeitnehmern zu fördern, ist laut ihr auch Aufgabe von Arbeitgebern. „Wir versuchen, den Firmen Lösungen anzubieten. Das fängt zum Beispiel bei der Ergonomie am Arbeitsplatz an.“ Dazu gehören neben ergonomisch geformten Stühlen auch höhenverstellbare Schreibtische.
Schenkengel empfiehlt darüber hinaus einige in Büroräumen eher selten gesehene Hilfsmittel, etwa eine Massagerolle, die an der Wand befestigt ist und mithilfe derer man sogar im Vorbeigehen kurz den Rücken auflockern könne. Ebenso effektiv sei eine Infrarotkabine – in der Praeventi-Praxis haben die Mitarbeiterinnen von Schenkengel die Möglichkeit, eine solche Kabine zu nutzen.
Angebote müssen auch genutzt werden
Nutzen, genau das müssen die Menschen laut Viktoria Schenkengel solche Angebote erst einmal. „Wer beispielsweise im Büro einen höhenverstellbaren Schreibtisch hat, sollte davon auch Gebrauch machen.“ Leichter gesagt als getan, das weiß die Heidenheimer Ärztin. „Man muss es den Leuten vorleben.“ Arbeitgebern zu vermitteln, warum es sich lohnt, in Gesundheitsförderung zu investieren, und Arbeitnehmer dazu motivieren, Angebote am Arbeitsplatz in Anspruch zu nehmen, das sei Schenkengels Aufgabe als Betriebsärztin.
Doch helfen all dieses Kleinigkeiten wirklich dabei, Arbeitsstress signifikant zu reduzieren? Den Kopf nach Feierabend frei zu kriegen? Ja, findet Schenkengel. „Es ist auf jeden Fall mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und irgendwo muss man ja anfangen.“ Wie bei allen guten Vorsätzen.
Dieser Artikel ist teil der HZ-Serie zum Thema Gute Vorsätze für 2023.
Kreis Heidenheim
Dr. Viktoria Schenkengel: Anfänge in der Notfallmedizin
Ihre Anfänge hat Dr. Viktoria Schenkengel in der inneren Medizin sowie in der Notfallmedizin gemacht: „Ich bin mit Leib und Seele Rettungswagen gefahren“, erzählt sie. Ihr Mann Dr. Jan-Peter Schenkengel ist Chefarzt am Institut für Radiologie am Heidenheimer Klinkum.
In Heidenheim hat Dr. Viktoria Schenkengel in einer Praxis gearbeitet, bevor sie sich schließlich 2017 selbstständig gemacht hat – unter anderem mit dem Schwerpunkt Betriebsmedizin.
Ihre Motivation für diesen Wechsel beschreibt Schenkengel so: „Mich hat interessiert, warum meine Patienten überhaupt krank geworden sind. Ich wollte hinter die Kulissen blicken. So bin ich schließlich bei der Arbeitsmedizin gelandet.“
Zu den Betrieben, die Schenkengel betreut, gehört unter anderem die Stadt Heidenheim. Darüber hinaus gehören viele verarbeitende Firmen zu ihren Patienten, also Unternehmen, in denen körperlich anspruchsvolle Arbeit verrichtet wird.