Rücktritt von Selina Holl

Wie eine Psychologin den Umgang mit der Altheimer Bürgermeisterin bewertet

Nach Kritik an ihrem Privatleben erklärte sie ihren Rücktritt: Der Umgang mit der 31-jährigen Altheimer Bürgermeisterin Selina Holl sorgt für Diskussionen und Bestürzung. Die Psychologin Mercedes Mende berät Amtsträger in Ausnahmesituationen. Sie sagt: Frauen und Männer werden unterschiedlich bewertet. Im HZ-Interview kritisiert sie diese Doppelmoral.

„Aufgrund meiner persönlichen Lebensumstände wurde an mich herangetragen, dass ich mein Amt nicht ausüben könne“, so begründete Selina Holl ihren Rücktritt. Die 31-Jährige war erst seit zwei Jahren Bürgermeisterin in Altheim. Mercedes Mende aus Friedenweiler im Breisgau ist Expertin für Krisen- und Stressbewältigung und berät seit zehn Jahren bundesweit Bürgermeister, die aus den unterschiedlichsten Gründen unter Druck geraten sind. Für die HZ schätzt sie die Situation in Altheim ein.

Frau Mende, was in Altheim passiert ist, lässt viele fassungslos zurück. Direkte Vorwürfe an Selina Holl hat es aus der Bevölkerung wohl nicht gegeben, aber im Rathaus sind anonyme Briefe eingegangen, in der ihr Rücktritt gefordert wurde. Im Dorf wurde über ihr Privatleben getratscht. Lästereien über den Bürgermeister hat es schon immer gegeben. Aber wird der Ton gegenüber Amtsträgern allgemein rauer?

Die Hemmungslosigkeit und Aggression haben meiner Wahrnehmung nach zugenommen. Es fehlt an Verständnis und Respekt. Ein Amt wird heute oft als Blitzableiter für die eigenen Befindlichkeiten missbraucht. Dass hinter dem Amt ein Mensch steht, scheinen manche zu vergessen.

Woher kommt diese Hemmungslosigkeit?

Eine Erklärung liegt in der Einschränkung grundlegender Bedürfnisse nach Autonomie und Kontrolle, wie wir sie vor fünf Jahren während der Pandemie erlebt haben. Mit vielen hat das etwas gemacht. Was ich aus Gesprächen mit Bürgermeistern und Amtsträgern mitnehme ist, dass die Frustrationstoleranz deutlich abgenommen hat. Die Zündschnur ist kürzer geworden.

Können Sie konkreter werden?

Manchen fällt es schwer, eine Entscheidung zu akzeptieren. Man geht mit einer Contra-Haltung durch den Alltag und ist nicht mehr bereit, sich den Standpunkt eines anderen auch nur anzuhören. Man hat nur noch seine eigene Wahrheit und alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, wird grundsätzlich abgelehnt.

Selina Holl wurde ihre neue Liebe und dass sie ein zweites Kind bekommen hat offenbar übelgenommen. Schon im Wahlkampf war sie gefragt worden, ob ihre Familienplanung abgeschlossen ist. Das ist doch nicht nur eine Grenzüberschreitung, sondern purer Sexismus.

Von Sexismus sprechen wir, wenn Frauen nach Maßstäben beurteilt werden, die für Männer keine Rolle spielen. Solche Zuschreibungen – ob von Männern oder Frauen – entspringen überholten Rollenbildern. Dass diese auch heute noch beruflich engagierte Frauen unter Druck setzen oder gar zu Rücktritten zwingen, ist schlicht empörend. Eine solche moralisierende Überheblichkeit ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar.

Mit diesem erhobenen Zeigefinger sehen sich Männer also nicht konfrontiert, wenn es um ihr Privatleben geht?

Mir ist aus meiner beruflichen Praxis kein Fall bekannt, in dem es Gegenstand der Diskussion war, wie viele Kinder ein Mann hat oder mit wem er verheiratet ist. Bei Frauen dagegen scheint es fast normal zu sein, über ihr Privatleben, ihr Auftreten oder ihre Kleidung zu diskutieren. Diese Doppelmoral ist anmaßend.

Das Privatleben von Selina Holl war in Altheim thematisiert und kritisiert worden. Foto: Roland Schütter

Als Frau kann man es eigentlich nie jemandem recht machen.

Das ist richtig. Haben Frauen keine Kinder, gelten sie schnell als egoistisch. Haben sie Kinder und arbeiten Vollzeit, laufen sie Gefahr, als Rabenmutter abgestempelt zu werden. Arbeiten sie neben der Care-Arbeit nicht oder in Teilzeit, fehlt es ihnen an Engagement. Frauen werden anders bewertet als Männer. Das sieht man auf der großen politischen Bühne genauso wie in der Kommunalpolitik.

Das Patriarchat schlägt also immer noch voll durch?

Ja, hier zeigt sich ein patriarchales Rollenverständnis. Und solche Zuschreibungen können sowohl von Männern als auch von Frauen kommen. Entscheidend ist, dass Frauen noch immer nach anderen Kriterien bewertet werden als Männer – gerade, wenn es um die Vereinbarkeit von Amt und Familie geht.

Gegenstand der Kritik in Altheim war auch, dass das Auto der Bürgermeisterin nicht oft genug vor dem Rathaus stand, obwohl sie wohl oft einfach zu Fuß zur Arbeit kam. Oder dass sie auf einem Dorffest nur zwei Stunden im Festzelt saß. Für Außenstehende klingt das lächerlich, aber für Frau Holl war das sicher schmerzlich.

Das hört sich nach konstruierten Problemen an, die null Relevanz für ihre Amtsführung haben. Manchmal sollte man einen Schritt zurücktreten und überlegen, worum es überhaupt geht.

Und um was geht es?

Um eine junge Frau, die bereit ist, für eine Gemeinde Verantwortung zu übernehmen. Die bereit ist, viel Zeit zu investieren und bereit ist, sich zu engagieren. Da kann man sich schon fragen: Welches Motiv hat jemand, diese Frau zu diskreditieren?

Dass man destruktiv und unzufrieden mit dem eigenen Leben ist?

Oder es passt einem einfach nicht ins Weltbild, dass eine junge Frau und Mutter diesen Job gut machen kann. Wie Sie es beschreiben, wurde hier versucht, eine Person zu demontieren und mit anonymen Briefen eine Bedrohung zu konstruieren. Das zeugt schon von einer gewissen Borniertheit, denn was ist, wenn der Platz im Rathaus unbesetzt bleibt? Wurde da nicht weitergedacht - oder will einer der anonymen Briefeschreiber den Stuhl von Frau Holl?

Die anonymen Briefschreiber forderten wohl ihren Rücktritt, ob es auch Drohungen gab, ist uns nicht bekannt.

Mit einem anonymen Brief möchte man verunsichern. Es ist ein deutliches Zeichen: ‚Achtung, hier ist jemand, der etwas gegen Dich hat‘. Das bewirkt ein Bedrohungsgefühl, schon allein deshalb, weil man nicht weiß, wer der eigentliche Gegner ist. Und das löst Stress im Körper aus.

Feige ist das Verhalten auch.

Absolut! Warum zeigt man nicht sein Gesicht und unterschreibt den Brief mit Namen?

Verspüren die Briefschreiber und Lästerer durch den Rücktritt von Frau Holl eine Genugtuung?

Möglich. Es kann aber auch sein, dass sie gar nicht überblickt haben, wozu das führt. Sie wollten vielleicht einfach mal ihren Missmut kundtun. Unter Umständen unterstellt man ihnen weitreichendes Denken, das gar nicht da ist.

Jedenfalls drängt sich die Frage auf: Welche Frau in gebärfähigem Alter wird sich jetzt noch in Altheim zur Wahl stellen?

Natürlich sehen junge Frauen sehr genau hin, wie mit anderen Frauen umgegangen wird. Und dann überlegt man sich, ob man das für sich möchte. So ein Bürgermeisteramt ist ja auch keine Arbeit wie in einer Firma. Die ganzen Abendtermine, das ist viel Lebenszeit, die man opfert. Das erfordert viel Idealismus.

Trotz Solidaritätsbekundung will Altheims Bürgermeisterin Selina Holl wohl an ihrem Rücktritt festhalten. Verena Eisele/Archiv

Vergangene Woche gab es eine Solidaritätskundgebung in Altheim. 60 Bürger haben sich vor dem Rathaus teils mit Plakaten versammelt und wollten Frau Holl umstimmen. Das ist doch ein sehr gutes Zeichen, wenn die sonst oft schweigende Mehrheit einfach nicht schweigt.

Das ist großartig, denn Schweigen schützt immer die Täter. Wenn so etwas wie in Altheim weite Kreise zieht und es immer weniger Kommunalpolitiker gibt, die bereit sind, sich in die erste Reihe zu stellen, haben wir ein massives Problem. Es ist ja nicht so, dass es massig Bewerber für solche Ämter gibt. Ganz im Gegenteil. Und als Gesellschaft muss man sich fragen, ob wir wollen, dass so mit Menschen umgegangen wird, die für uns Verantwortung übernehmen. Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass man sich dafür rechtfertigen muss, mit wem man liiert ist oder wie viele Kinder man hat. Natürlich steht man als Bürgermeister in der Öffentlichkeit, aber das ist privat und alles hat seine Grenzen.

Solidarität zu zeigen, ist also nicht nur wichtig für Frau Holl, sondern für uns alle?

Ja, so ein Zeichen zu setzen, ist wichtig. Zu zeigen, wer wirklich die Mehrheit ist. Im Übrigen sollten sich auch diejenigen aus der Deckung wagen, die glauben, dass junge Frauen für so ein Amt ungeeignet sind und das mit Fakten, Zahlen und Studien untermauern.

Solche Studien gibt es natürlich nicht. Aber das ist ein großes Problem heutzutage: Gefühle zählen mehr als Fakten.

Ganz genau. Und wie soll man gegen ein Gefühl argumentieren? Gegen einen Vorwurf, der mit einem Gefühl begründet wird, kann man sich nicht wehren. Das macht das Ganze auch so manipulativ – und belastend für Menschen, die damit konfrontiert sind. Wenn man Frau Holl vorwirft, ihr Amt nicht ausführen zu können, muss man das konkret und nachvollziehbar belegen. Alles andere sind haltlose Behauptungen und Unterstellungen.

Sie beraten viele Bürgermeister, die mit Anfeindungen konfrontiert sind. Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Es ist leichter geworden, seine Meinung kundzutun und es ist leichter geworden, jemanden zu finden, der die eigene Meinung bestärkt. Die Gruppendynamik bei solchen Dingen darf man nicht unterschätzen. Da schließen sich Menschen unreflektiert schnell einer Meinung an. Dabei sind sie nur Mitläufer. So können sich Themen mit rasender Geschwindigkeit verbreiten – ob sie stimmen oder nicht. Das stellt Amtsträger vor ganz andere Herausforderungen und ist ein großer Stressfaktor.

In Baden-Württemberg wurden vom Landeskriminalamt im vergangenen Jahr 737 Straftaten gegenüber Amts- und Mandatsträgern registriert. 2020 waren es nur halb so viele.

Was ich wahrnehme, ist, dass die Qualität der Anfeindungen zugenommen hat. Es wurde schon immer derb geredet, aber Drohungen, die eindeutig in Richtung Körperverletzung gehen, dass Vergewaltigungsfantasien geäußert werden, dass Amtsträger körperlich angegangen werden, mit dem Messer bedroht werden – das ist eine ganz andere Bedrohungslage. Das geht ans Existenzielle.

Ist es nicht zu einfach, das mit dem Kontrollverlust während Corona zu rechtfertigen?

Zu rechtfertigen ist das keineswegs – niemand darf Menschen anpöbeln, angreifen, anfeinden, bespucken oder bedrohen. Corona und alle darauffolgenden Krisen können aber eine Erklärung geben, warum Menschen dünnhäutiger geworden sind. Es geht um Ursachenforschung, nicht um Rechtfertigung. Niemand kommt so auf die Welt. Da muss etwas passiert sein.

Und was?

Wir haben alle das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle und wenn ich mich in einem Lebensbereich ohnmächtig und unsicher fühle, versuche ich, das Gefühl der Kontrolle zurückzubekommen. Das kann sich in einen anderen Bereich verlagern und mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun zu haben. Dann kann sich ein Hass-Post entlastend und der Verfasser mächtig statt ohnmächtig fühlen.

Aggressivität und Hass sind also Zeichen von Unsicherheit und Angst?

Ja, oft sind Aggressionen Ausdruck von Angst, Unsicherheit oder Kontrollverlust.

Wie bewerten Sie, dass Frau Holl trotz der Solidaritätsbekundung wohl an ihrem Rücktritt festhält? Ihre Begründung war, dass sie nicht bereit ist, ihre Gesundheit und das Glück ihrer Familie aufs Spiel zu setzen.

Das gilt es zu respektieren. Frau Holl setzt bewusst Grenzen für ihre Gesundheit und ihre Familie. Aus meiner Sicht ein mutiger Schritt. Gleichzeitig ist es aber schade, dass sie keine andere Möglichkeit sieht, ihr Amt weiter auszuüben.

Die Diskussion um das Privatleben der Altheimer Bürgermeisterin

Erst seit wenigen Wochen war Altheims Bürgermeisterin Selina Holl (parteilos) offiziell zurück im Dienst. Im Mai brachte sie ihr zweites Kind zur Welt, anschließend war sie zehn Wochen im Mutterschutz. Doch ihre Rückkehr war von kurzer Dauer. Am 19. August erklärte sie im Gemeinderat ihren Rücktritt. Im Dorf war ihr Privatleben zum Thema geworden. Ins Rathaus flatterten anonyme Briefe, in denen ihr Rücktritt gefordert wurde. Schon zu Beginn der Schwangerschaft hat es laut Holl Stimmen gegeben, die sie für überlastet hielten.

Selina Holl ist seit Anfang des Jahres geschieden, die Trennung erfolgte Ende 2023. Ihr Ex-Mann arbeitet in der Verwaltung in Amstetten. Inzwischen ist Selina Holl mit dem ehemaligen Altheimer Gemeinderat und Unternehmer Maximilian Pitz liiert. Mitte vergangenen Jahres lernten sie sich kennen. Zur Kommunalwahl trat Pitz noch an, erhielt aber kein Mandat. Zusammen haben sie im Mai dieses Jahres eine kleine Tochter bekommen, beide bringen noch jeweils ein Kind aus früheren Beziehungen in die Patchwork-Familie.

Die Psychologin Mercedes Mende

Mercedes Mende ist Expertin für Krisen- und Stressbewältigung. Die Psychologin mit psychotherapeutischer und notfallpsychologischer Ausbildung sowie Diplom-Volkswirtin führt eine eigene Praxis im Schwarzwald. Seit fast zehn Jahren unterstützt sie Bürgermeister, Amtsträger und kommunale Führungskräfte. Dabei bringt sie psychologisches Fachwissen mit praktischem Verständnis für die Herausforderungen der Kommunalpolitik sowie eigener Führungserfahrung zusammen. Weitere Informationen gibt es auf mercedes-mende.de

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