Lebensgeschichte

Wie Marion Krause und Blindenführhündin Stella zusammen durchs Leben gehen

Marion Krause ist aufgrund einer Netzhauterkrankung blind. Freiheit schenkt ihr die Blindenführhündin Stella. Eine Begegnung.

Marion Krause öffnet die Tür und bittet zu Tisch. Sie tastet die Lehne ihres Stuhles und setzt sich. Ihr Mann hat Kaffee eingeschenkt. Marion Krause streift sachte um den Tassenrand. „Ah, du hast die mit Goldrand genommen“, sagt sie und nimmt einen Schluck.

Marion Krause hat eine degenerative Netzhauterkrankung. Schleichend verlor die heute 64-Jährige das Augenlicht. Wahrscheinlich ist die Krankheit erblich bedingt. So genau weiß das aber niemand. Ihren Alltag bewältigt sie dennoch weitestgehend selbstständig. Ihr Haus kennt sie aus dem Effeff. Putzen, kochen, stricken: Klappt alles wunderbar. Und wenn sie das Haus verlässt, ist Blindenführhündin Stella an ihrer Seite. Die Hündin schenkt Freiheit.

Stella ist bestens ausgebildet und kann bis zu 40 Kommandos

Stella ist ein Golden-Retriever-Pudel-Mischling, sie ist für ihren Job als Blindenführhündin bestens ausgebildet. Das übernehmen spezielle Blindenführhundschulen. Bevor Hund und Eigentümer ein sogenanntes „Gespann“ werden, müssen sie sogar eine Prüfung ablegen.

Draußen gebe ich die Verantwortung an Stella ab, nicht selten hängt an ihr mein Leben.

Marion Krause über ihr Leben mit Blindenführhund

Stella ist der vierte Blindenführhund von Marion Krause. Seit 2018 gehen sie zusammen durchs Leben. Immer, wenn Stella ihr Führgeschirr trägt, ist sie im Dienst. „Sie arbeitet dann für mich“, sagt Marion Krause. Mehr als 40 Kommandos kennt die Hündin. „Such Weg“, „an Bord“, „such Eingang“ sind nur wenige Beispiele. „Draußen gebe ich die Verantwortung an Stella ab, nicht selten hängt an ihr mein Leben“, erzählt Marion Krause. Ohne Vertrauen geht da nichts.

Marion Krause fühlt sich mit Vierbeiner sicherer als mit Blindenstock. Ein Hund könne reagieren und interagieren. Zudem: Mit Hund sei es auch sozial angenehmer: „Da wird man nicht gleich als Blinder abgetan und sowieso finden Stella alle immer super“, erzählt sie. Die 64-Jährige will sich keine Grenzen setzen lassen. Mit Stella kann sie am Leben teilhaben – eigenständig und auch außerhalb der eigenen vier Wände.

Blindenführhündin Stella ist bestens ausgebildet. Rudi Penk

Rückblick. Schon im Säuglingsalter fiel auf, dass Marion Krause nicht richtig sehen kann. „Ich fixierte Bezugspersonen nicht so, wie das sein sollte“, erklärt die Königsbronnerin. Dennoch folgte ein ganz normaler Lebenslauf. Sie besuchte die Regelschule, kämpfte sich durch. „Ich hätte sicher schon zu dieser Zeit auf eine Sehbehinderten- und Blindenschule gehört. Ich musste mir viel anhören. Aber aus sozialer Sicht war die Regelschule der richtige Weg. Ich war einfach integriert.“

Marion Krause hatte zur damaligen Zeit keine Hilfsmittel und ihre Sehkraft schwand zunehmend. Wann genau sie ihr Augenlicht komplett verloren hat, weiß sie gar nicht mehr. „Irgendwann ist der Zeitpunkt auch gar nicht mehr wichtig“, sagt sie heute im Rückblick. Die Hürden des Alltags waren Ansporn für sie. „Warum soll ich resignieren?“, sagt sie. Ihr Mann Gustav, den sie 2013 heiratete, pflichtet bei: „Das entspricht absolut nicht dem Naturell meiner Frau.“

Marion Krause arbeitet 40 Jahre lang als Physiotherapeutin

Marion Krause packte der Ehrgeiz. Sie ging nach Stuttgart, um dort die Nikolauspflege (eine Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen) zu besuchen. Hier bekam sie endlich das an die Hand, was sie schon lange gebraucht hätte. Sie konnte mit Lesegerät lesen, lernte die Blindenschrift und legte schließlich ihren Realschulabschluss ab, absolvierte zwei Ausbildungen. Letztlich war sie 40 Jahre lang als Physiotherapeutin tätig. „Und das, obwohl es früher hieß, Blinde können das nicht“, sagt die Königsbronnerin.

Auf Stella ist Verlass. Rudi Penk

Ihre Geschichte bewegt sie auch dazu, ihre Stimme zu erheben. Wann immer es nötig ist. Marion Krause ist engagiert, im Ort, darüber hinaus, zudem ist sie Mitglied im Blindenverband. Und sie ist Vorsitzende der Fördergemeinschaft des botanischen Blindengartens Radeberg – der einzige dieser Art in Deutschland und wahrscheinlich auch in Europa.

Sie sucht den Dialog mit öffentlichen Stellen, wenn es um Barrierefreiheit und Bedürfnisse gehandicapter Menschen geht. Erst jüngst war sie bei einer Besprechung zum Umbau des Ulmer Hauptbahnhofes dabei. „Ich will mich einbringen und nicht nur im Nachhinein schimpfen“, sagt sie. Und sie weiß, dass Menschen wie sie noch immer nicht genug gesehen werden. „Und da geht es mir beileibe nicht um mich, sondern um ein Miteinander, das wir dringend leben müssen.“

Krause will für die Belange gehandicapter Menschen sensibilisieren

Marion Krause kennt die Hürden im Alltag, die kleinen Dinge, die ihr Teilhabe schwierig machen können. „Das kann die Mülltonne auf dem Gehweg sein oder das Fehlen von Querungshilfen.“ Mit Stella Heidenheim zu besuchen, sei schwierig für sie. „Das weiß die Stadt auch und sie sind dran.“ Ulm hingegen sei vorbildlich: „Ulm will assistenzhundefreundliche Stadt werden. Das finde ich toll.“ Sie ist sich sicher: „Das geht nicht mit Rieseninvestitionen einher. Man muss nur ein wenig umdenken.“

Bei gehandicapten Menschen wird immer nur die Bedürftigkeit gesehen. Aber kaum jemand sieht, welche Gaben wir haben.

Marion Krause ist aufgrund einer Netzhauterkrankung blind

In Sachen Inklusion wünscht sie sich mehr Einsatz. „Es kann jeden Tag, jeden von uns treffen“, sagt sie. Inklusion spannt sich für die Königsbronnerin über den gesamten Lebensalltag – und meint nicht nur den Schulbesuch, sondern auch Teilhabe am öffentlichen Leben. „Da ist Deutschland noch ganz weit hinten“, sagt Marion Krause. Mal wieder seien es die nordischen Länder, die vorbildlich sind. Unterm Strich sagt sie: „Es ist schon vieles besser geworden, aber es ist noch nicht gut.“

Ihre Welt ist alles andere als dunkel

Und dann stellt sie ihre Tasse wieder auf das Untertellerchen. Stella liegt im Hundekörbchen und schläft. Marion Krause lehnt sich zurück und erklärt, wie sie ihre Welt mit inneren Bildern malt: „Ich habe die Welt so abgespeichert, wie ich sie früher kannte.“ Und mitunter sieht sie sogar Vorteile in ihrer Erkrankung: „Wissen Sie, ich muss die Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen. Schubladen gibt es bei mir nicht.“

Ohnehin würde bei gehandicapten Menschen immer nur die Bedürftigkeit gesehen. „Aber kaum jemand sieht, welche Gaben wir haben“, sagt Marion Krause – und ergänzt: „Oder wissen Sie, wie ein Schneeglöckchen riecht?“

Blindenführhunde: Fakten und Wissenswertes

Blindenführhunde werden aufwändig ausgebildet. Das übernehmen spezielle Hundeschulen. Rein rechtlich gelten sie als medizinisches Hilfsmittel. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.

Bei Ausbildungsende beherrschen die Hunde rund 40 Hörzeichen und lernen ständig dazu. Blindenführhunde sind sehr intelligent und verfügen über eine hohe Sozialkompetenz. Sie können zwischen rechts und links unterscheiden, finden auf Hörzeichen Ampeln, Eingänge, Zebrastreifen, Briefkästen und vieles mehr. Führhundeschulen in Deutschland arbeiten heute oft mit Labradoren, Labradoodles oder Golden Retrievern.

In Deutschland eröffnete 1916 die weltweit erste Schule für Blindenführhunde in Oldenburg, nachdem die Zahl der Kriegsblinden im 1. Weltkrieg immer weiter angestiegen war. Im Oktober 1916 wurde in Deutschland der erste Führhund dem Kriegsblinden Paul Feyen übergeben. Heute stehen in Deutschland laut dem Deutschen Blindenführhundeverein circa 2000 Hunde im Dienst als Blindenführhund.

Wichtig: Ist ein Blindenführhund im Dienst, sollte er nicht gestreichelt oder angesprochen werden. Der Deutsche Blindenführhundeverein sensibilisiert: „Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass sie durch dieses Verhalten sowohl Hund als auch Halter in Gefahr bringen. Einen Blindenführhund auf der Straße direkt anzusprechen, ist so, als würde man einem Chirurgen, der gerade am offenen Herzen operiert, mal locker auf die Schulter klopfen.“ Wenn der Blindenführhund sich im Geschirr befindet, sei er für die Sicherheit seines Menschen im Straßenverkehr verantwortlich. Jede Ablenkung könne zu Unfällen, Stolpern oder Fehl-Orientierung führen.