Nach tödlichem Fahrradunfall

Fahrlässige Tötung: Warum eine Seniorin vor dem Amtsgericht Heidenheim zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde

Am 12. Februar 2025 erfasste eine 85-Jährige mit ihrem Auto bei Zang einen Radfahrer und verletzte ihn tödlich. Nach dem Unfall fuhr sie nach Hause. Jetzt musste sich die Frau vor Gericht verantworten – in einer Verhandlung, die allen Beteiligten an die Nieren ging.

Der Disponent der Rettungsleitstelle Ostwürttemberg klang etwas verärgert: „Sie hätten direkt von Ort und Stelle anrufen müssen“, sagte er der Anruferin. Sekunden zuvor, eine Minute nach 10 Uhr, hatte die Frau die 112 gewählt und gesagt, sie glaube, sie habe zwischen Zanger Kreisel und Königsbronn jemanden liegen sehen. Was die Frau nicht wusste: Zu dieser Zeit versuchten bereits drei Frauen, den Mann zu reanimieren – letztlich erfolglos.

Was sie auch nicht wusste: Dieser Anruf war ein zentrales Puzzlestück in einem Kriminalfall, das sie nun vor das Heidenheimer Schöffengericht bringen sollte. Denn für die Verletzungen des Mannes, die dieser etwa gegen 9.45 Uhr erlitten hatte, war sie selbst verantwortlich. Am Dienstag wurde sie wegen fahrlässiger Tötung und Unfallflucht zu einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten verurteilt, in einer Hauptverhandlung, die keinen Gewinner kennen konnte.

Am 12. Februar fuhr die Frau mit ihrer B-Klasse von Heidenheim kommend in Richtung Königsbronn und übersah den damals 68-Jährigen, der auf gerader Strecke auf seinem Fahrrad unterwegs war. Der Aufprall muss enorm heftig gewesen sein, Teile des Stoßfängers und des rechten Scheinwerfers wurden abgerissen, der Kotflügel wie der Deckel einer Konservendose aufgeklappt.

Sogar die überaus stabile A-Säule wies Verformungen auf. Dennoch schloss Dekra-Gutachter Raphael Steck aus den Schäden an Auto und Fahrrad, dass die Fahrerin nicht schneller als mit 100 Kilometern pro Stunde gefahren sei. Auch Angaben, sie sei lediglich 50 gefahren, hielt er für plausibel. Der Radfahrer war aus Sicht des Gutachters aber „zwingend bemerkbar“, der Mann trug sogar eine Jacke mit Reflexstreifen. Die Fahrerin gab an, mit Licht gefahren zu sein.

Radfahrer stirbt nach Verkehrsunfall beim Zanger Kreisel. Dennis Straub

Passanten versuchten, das Unfallopfer zu retten

Die 85-Jährige bemerkte den Zusammenprall in jedem Fall. Wie sie ihren Verteidiger vortragen ließ, hielt sie an, stieg aus und sah das demolierte Fahrrad am Straßenrand liegen. Das Unfallopfer, das etliche Meter entfernt im Straßengraben lag, habe sie nicht wahrgenommen. Als sie wenig später von zu Hause den Notruf wählte, sagte sie freilich etwas anderes: „Ich hab‘, glaub’ ich, jemanden liegen sehen.“

Wahrscheinlich nur wenige Minuten nach dem Unfall bemerkten andere Autofahrende das Fahrrad, hielten an, und sahen den Mann, der laut einer Zeugin auf dem Bauch im Graben lag. Telefonisch angeleitet durch einen Mitarbeiter der Rettungsleitstelle, begannen sie mit der Herzdruckmassage und der Beatmung. Amtsgerichtsdirektor Rainer Feil dankte den drei Frauen in der Verhandlung ausdrücklich für ihre Entschlossenheit, dem augenscheinlich schwerverletzten Mann helfen zu wollen.

Eine Chance hatten sie nicht. Wie die rechtsmedizinische Sachverständige Séverine Baisch erklärte, hatte der Mann nach dem massiven Aufprall praktisch keine Überlebenschance. Er erlitt schwerste Schädel-Hirn-Verletzungen und Frakturen am ganzen Körper. Eine wenige Minuten nach den Ersthelferinnen eintreffende Notärztin versuchte noch, den Mann wieder ins Leben zu holen, musste aber nach etwa einer halben Stunde seinen Tod feststellen.

Polizei ermittelte mit riesigem Aufgebot

In den Folgestunden lief eine gewaltige Ermittlungsmaschinerie an. Unter Federführung des Polizeipräsidiums Ulm wurde eine 70-köpfige Sonderkommission gegründet. Einerseits suchten sie nach der unfallflüchtigen Person, sie versuchten aber auch die Identität des Opfers zu klären, das keine Papiere bei sich gehabt hatte.

Eine Kriminalbeamtin berichtete, wie sie routinemäßig Aufnahmen der Notrufe anforderte und dann zu jener Anruferin fuhr, die etwa eine Viertelstunde nach dem Unfall angerufen hatte. Die Überraschung: Die Seniorin gab unumwunden zu, den Unfall verursacht zu haben. In den sieben Stunden, die seither vergangen waren, hatte sie niemandem davon erzählt, sie war mit Angehörigen einkaufen gegangen und wollte gerade mit ihnen Kaffee trinken, als die Polizei klingelte.

Es ist diese scheinbare Ungerührtheit, die am Dienstag die Prozessbeteiligten an ihre Grenzen brachte. Während der rund achtstündigen Verhandlung saß die Angeklagte fast regungslos auf ihrem Platz, den Kopf auf die Hände gestützt. Die wenigen Worte, die sie sprach, waren kaum zu hören. Das Geständnis ließ sie von ihrem Anwalt verlesen.

Vergebliches Warten auf ein persönliches Wort

Ihr gegenüber saß die Familie des Getöteten, die Witwe, die Kinder und Enkel. Sie warteten vergebens auf ein Wort des Bedauerns. Einer Mitarbeiterin der Gerichtshilfe hatte die Angeklagte vorab gesagt, sie wolle den „Rucksack alleine tragen“, das Geschehen, die Erinnerung und die Folgen mit sich selber ausfechten, vielleicht nicht ahnend, wie sehr gleich zwei Familien leiden – die des Opfers und ihre eigene. Richter Feil wollte der 85-Jährigen immer wieder den Raum für ein persönliches Wort bieten. Aber auch in ihrem letzten Wort vor dem Urteil schloss sie sich lediglich ihrem Verteidiger an.

Als Vertreter der als Nebenkläger auftretenden Söhne und der Witwe sagte Rechtsanwalt Ferry S. Bilics, der Unfall sei zweifelsohne schrecklich gewesen. Er rechnete der Angeklagten auch an, dass sie zumindest von zu Hause noch versucht habe, Hilfe zu holen. Sie hatte angegeben, kein Handy dabei gehabt zu haben. Was nach dem Notruf folgte, wertete Bilics aber als „herb“. Offensichtlich hatte die Frau das Geschehen weitgehend verdrängt. „Eine Entschuldigung hätte Ihnen gut gestanden“, sagte Bilics.

Führerschein bleibt eingezogen

So ließ sich in der Verhandlung lediglich die eine Erklärung finden, dass die bis dahin unbescholtene Frau im Schock nach dem Unfall mit der Situation vollkommen überfordert war. Verteidiger Kai P. Fuhrmann wies in seinem Plädoyer auf seine Mandantin: „Sie sitzt den ganzen Tag so da, völlig unfähig, sich zu äußern.“ Sie schaffe es nicht einmal, den Angehörigen des Opfers in die Augen zu schauen. Er wisse nicht, ob sie vor Ort die Unfallfolgen realisiert habe, er glaube aber auch nicht an Bösartigkeit oder Gefühllosigkeit. Sie stehe zu ihrer Tat, auch wenn sie das Mitgefühl nicht formulieren könne.

Ebenso wie Bilics stellte Fuhrmann die Höhe der Strafe ins Ermessen des Gerichts. Staatsanwalt Robert Gmeiner sah die Vorwürfe als erwiesen an, warf der Angeklagten aber auch „Gleichgültigkeit“ vor, obwohl er einräumte, die Entscheidung am Tattag sei womöglich „nicht ganz rational gewesen“. Er forderte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, außerdem 10.000 Euro Geldauflage.

Normalerweise sage ich am Ende, dass ich allen Glück wünsche, heute wünsche ich allen Beteiligten viel Kraft.

Amtsgerichtsdirektor Rainer Feil

Das Schöffengericht um Richter Feil verurteilte die Frau zu 15 Monaten auf Bewährung und einer Geldauflage von 4000 Euro. Der Führerschein bleibe noch für weitere 18 Monate eingezogen. „Ich glaube nicht, dass sie kaltblütig gehandelt hat“, sagte Feil. Unklar sei für ihn, ob für eine Entschuldigung „Anstand, Mut oder Kraft“ fehlten. Das Verhalten nach dem Unfall sei ein „Abtauchen aus der Welt“ gewesen. Der Unfall war nach Überzeugung des Richters aber vermeidbar, sie habe in hohem Maße ihre Sorgfaltspflicht verletzt.

„Normalerweise sage ich am Ende, dass ich allen Glück wünsche, heute wünsche ich allen Beteiligten viel Kraft“, sagte Feil, wohl wissend, dass der Verhandlungstag niemandem wirklich Erleichterung gebracht hat.

Was ist fahrlässige Tötung?

Von fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr spricht man dann, wenn durch die Missachtung der Sorgfaltspflicht ein Mensch zu Tode kommt. Dazu zählen beispielsweise Verstöße gegen Verkehrsregeln, etwa Überholen im Überholverbot. Bei einer fahrlässigen Tötung liegt kein vorsätzliches Handeln vor, also das bewusste Inkaufnehmen tödlicher Verletzungen.