Erst Einstein, dann Adenauer

Wie die Seewiesenbrücke in Heidenheim zu ihrem Namen kam

Als „Jahrhundertbauwerk“ gepriesen, wurde im Oktober 1976 die Seewiesenbrücke in Heidenheim eingeweiht. Vorausgegangen war ein erbitterter Streit über ihren Namen.

Wie soll eine neue Brücke heißen? Gerne lassen sich die Namensgeber von landschaftlichen Besonderheiten inspirieren, die dem Bauwerk den Rahmen geben. Die Golden-Gate-Bridge beispielsweise verdankt ihre Bezeichnung der Meerenge, die sie überspannt: Das Golden Gate – ins Deutsche übersetzt: Goldenes Tor – markiert den Eingang zur Bucht von San Francisco.

Wer Fettnäpfchen und Parteiengezänk nicht scheut, kann sich aber auch aus einer Liste von Politikern bedienen. Exemplarisch dafür steht die Seewiesenbrücke in Heidenheim. Wenngleich sie derzeit, fast genau 49 Jahre nach ihrer Inbetriebnahme, in Teilen einen neuen Anstrich verpasst bekommt, bleibt ihre Historie auf ewig mit einer Kontroverse verbunden, die sich zwar übertünchen, niemals aber aus den Geschichtsbüchern schleifen lässt.

Eine schiere Verkehrsbremse: Bis zu sechs Stunden ist der WCM-Bahnübergang beim „Felsen“ an einem gewöhnlichen Werktag geschlossen. Foto: Archiv

Alles beginnt in den frühen 1970er-Jahren. Heidenheims innerstädtisches Straßennetz überschreitet an mehreren Stellen seine Kapazitätsgrenze. Geboren wird deshalb die Idee, die B 19 auf die Ostseite der Brenz zu verlegen und sie in Nord-Süd-Richtung von Schnaitheim bis zum Totenberg am Stadtgebiet vorbeiführen. Voraussetzung für die nach Einschätzung von Oberbürgermeister Martin Hornung „allerwichtigste Straßenbaumaßnahme für unsere Stadt in diesem Jahrzehnt“ ist es, den WCM-Bahnübergang beim „Felsen“ zu beseitigen, der an Werktagen bis zu sechs Stunden geschlossen ist und lange Staus verursacht.

1975 überspannt noch keine Brücke die Seewiesen. Links und rechts sind aber bereits die Zufahrtsrampen zu erkennen. Foto: Archiv

Dafür wiederum bedarf es zunächst einer als „Nördliche Querspange“ bezeichneten Verbindung über die Bahnstrecke und die Brenz hinweg, da andernfalls katastrophale Verkehrsverhältnisse drohten, so Hornungs Prognose, „wenn der B-466-Verkehr nach wie vor noch über den Bahnübergang verlaufen“ würde.

Bevor der eigentliche Brückenbau beginnt, wird auf der Westseite die Auffahrt modelliert. Foto: Archiv

Also entwirft das Ingenieurbüro Dr. Bechert aus Stuttgart die Pläne für besagte Querspange, deren Bau am 7. Oktober 1974 beginnt. Aufgrund der Bodenbeschaffenheit werden 170 Bohrpfähle, auf denen das knapp 400 Meter lange Bauwerk ruht, bis zu 14 Meter in die Tiefe getrieben. 5000 Kubikmeter Erdreich sind zu bewegen, 6900 Kubikmeter Beton in die vorgegebene Form zu bringen, ehe nur zwei Jahre später, am 29. Oktober 1976, Vertreter von Behörden, Bahn und Baufirmen die fristgerechte Fertigstellung feiern.

Die knapp 400 Meter lange Seewiesenbrücke ruht auf zwei massiven Widerlagern und elf Rundpfeiler-Paaren. Sie werden nach und nach in die Landschaft gesetzt, ehe der Aufbau folgt. Foto: Archiv

Die Kosten für das gesamte Bauvorhaben belaufen sich auf 13,8 Millionen Mark – 90 Prozent der Summe tragen Bund, Land und Deutsche Bundesbahn, der überschaubare Rest entfällt auf die Stadt. Wenig überraschend folglich, dass Hornung zufrieden von einem „Symbol für gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit zwischen Stadt und Gemeinden“ spricht.

So weit die harten Fakten. Allerdings begleitet eine an diesem Tag pietätvoll ausgeklammerte Frage die Einweihungszeremonie: Welchen Namen soll das jüngste Kind der Heidenheimer Verkehrsplanung dauerhaft tragen? Papier ist erfahrungsgemäß geduldiger als persönliche, zumal je nach subjektiver Präferenz gefilterte Erinnerung. Und so lässt sich aus der Berichterstattung der Heidenheimer Zeitung folgender Ablauf destillieren.

Fast 700 Tonnen Stahl verbergen sich in der aus Spannbeton gefertigten Seewiesenbrücke. Foto: Archiv

Als die Idee der Querspange geboren wird, erhält sie den Arbeitstitel Albert-Einstein-Brücke verpasst. Weshalb, vermag im Nachhinein niemand schlüssig zu erklären. Auch der zum Zeitpunkt der Eröffnung geltende Name lässt Fragen offen: Konrad-Adenauer-Brücke. Warum? Zwar teilen weite Teile der Bevölkerung die Überzeugung, dass sich der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg als Brückenbauer nach West wie auch nach Ost hervorgetan hat. Aber was verbindet ihn mit Heidenheim außer einer Kundgebung auf dem Bahnhofplatz im Vorfeld der Bundestagswahl 1961?

Im Gemeinderat fliegen wiederholt die Fetzen, und die Lokalzeitung sorgt sich angesichts des wachsenden Zerwürfnisses zwischen den Fraktionen um den Ruf Heidenheims in der landesweiten Wahrnehmung. Von Kabarettstückchen, Husarenstreichen und Blamage ist die Rede – ehe die Gemüter so weit abgekühlt sind, dass sich der tatsächliche Ablauf der Posse rekonstruieren lässt.

Tausende Kubikmeter Beton sind nötig, um den Brückenschlag zwischen alter und neuer Bundesstraße zu schaffen. Im linken oberen Bildbereich ist die Waldorfschule zu sehen. Foto: Archiv

Die Freigabe der Brücke für den Verkehr ist schon in Sicht, als am 21. Oktober 1976 die Namensgebung für die neue Brücke auf der Tagesordnung des Verwaltungsausschusses steht. Der Wählerblock bringt Konrad Adenauer ins Spiel. Weitere Vorschläge: Fehlanzeige. Auch die SPD hat keine Empfehlung in petto. Erst kurz vor der Beschlussfassung in der Gemeinderatssitzung am 28. Oktober reicht sie mündlich den Antrag ein, sich für den früheren, im Oktober 1973 verstorbenen Heidenheimer Bürgermeister und Stadtkämmerer Emil Ortlieb zu entscheiden.

Hornungs Rat, die Entscheidung angesichts der veränderten Sachlage zu vertagen, bleibt ungehört. Fraktionschef Dr. Klaus Gubitz stellt für den Wählerblock unmissverständlich fest: „Wir bleiben bei unserem Antrag.“ Namens der SPD räumt Emil Martin ein, seine Fraktion habe als zahlenmäßig stärkste des Gremiums „in dieser Sache etwas geschlafen“. Den von Dr. Peter Meuer (Wählerblock) geäußerten Vorwurf, die SPD habe aus hinterhältigen Motiven gehandelt, weist er jedoch entschieden zurück und gibt zu bedenken, Adenauer könne man überall ein Denkmal setzen, Ortlieb hingegen nur in Heidenheim.

Bundeskanzler Konrad Adenauer bei einer Kundgebung auf dem Heidenheimer Bahnhofplatz im Vorfeld der Bundestagswahl 1961. Foto: Archiv

Derweil spricht sich Ulrich Huber (DKP) gegen Adenauer aus, da dieser die Arbeiterschaft belogen habe. Schlussendlich platzt Bruno Brucklacher von der Liste der Freien Wähler der Kragen. Er verurteilt den „falschen Ehrgeiz“ der Fraktionen und sagt: „Ich schäme mich.“

Abgestimmt wird trotzdem. 16 Stadträtinnen und Stadträte sprechen sich für den Vorschlag des Wählerblocks aus, 14 dagegen, zwei enthalten sich. Das Ergebnis kommt auch deshalb zustande, weil überraschenderweise einige SPD-Stadträte nicht an der Sitzung teilnehmen.

Das „Jahrhundertbauwerk“ ist fertig: Viele Heidenheimer wollen bei der Eröffnung der Konrad-Adenauer-Brücke am 29. Oktober 1976 dabei sein. Foto: Archiv

Tausende von Fahrzeugen rollen fortan Tag für Tag über die Konrad-Adenauer-Brücke, doch der Disput schwelt weiter. Helmut Braun, Chefredakteur der Heidenheimer Zeitung, bringt daher einen „Vorschlag zur Güte“ zu Papier und beruft sich dabei auch auf Meinungsäußerungen zahlreicher Leser: Der Wählerblock möge erkennen, dass er Adenauer am falschen Ort in falscher Weise präsentiert habe, die SPD einen Emil-Ortlieb-Saal im Rathaus gutheißen und die Öffentlichkeit eine Seewiesenbrücke bekommen.

Weiteres Hickhack lässt sich allerdings nicht vermeiden, und es schließt sich eine von Prinzipien geprägte Tour durch den schon damals wuchernden Paragrafendschungel an. Weil sich die Gemeindeordnung und die Geschäftsordnung des Gemeinderats widersprechen, soll das Regierungspräsidium die Frage beantworten, ob erneut über den Namen der Brücke abgestimmt werden darf. Ja, lautet die knappe Antwort. Und so kommt es dann auch: Am 2. Dezember 1976 wird aus der einstigen Albert-Einstein- und bisherigen Konrad-Adenauer- die Seewiesenbrücke.

Oberbürgermeister Martin Hornung (Zweiter von links) und Regierungspräsident Friedrich Roemer (Zweiter von rechts) bei der Einweihung der Konrad-Adenauer-Brücke am 29. Oktober 1976. Foto: Archiv

Ganz ohne Drama geht indes auch dieser letzte Akt einer beispiellosen kommunalpolitischen Tragikomödie nicht über die Bühne. Gubitz beharrt darauf, der Name Konrad-Adenauer-Brücke sei ordnungsgemäß zustande gekommen, und reagiert auf die turbulenten Szenen im Raum mit der Feststellung: „Ich erhebe Einspruch gegen die saumäßige Verhandlungsführung.“ Der Wählerblock verlässt daraufhin den Sitzungssaal und nimmt nicht an der Abstimmung teil. Dank der verbleibenden 19 Stimmen ist die neuerliche Taufe des Bauwerks anschließend schnell perfekt.

Gleiches gilt für den zweiten Teil der Beschlussfassung, an dem sich wieder alle anwesenden Gemeinderatsmitglieder beteiligen: Bei drei Enthaltungen fällt die Entscheidung, den großen Sitzungssaal im Heidenheimer Rathaus nach Emil Ortlieb zu benennen. Und vielleicht hat auf dem holprigen Weg zu einem halbwegs versöhnlichen Ende der Händel um den passenden Namen für Heidenheims „Jahrhundertbauwerk“ auch der Versuch von HZ-Chefredakteur Helmut Braun gefruchtet, eine Brücke zwischen den gegensätzlichen Lagern zu bauen. Eine Einigung, so lautete sein Appell, „würde uns in der Stadt böses Blut und im Ländle eine Blamage ersparen.“

Jetzt einfach weiterlesen
Jetzt einfach weiterlesen mit HZ
- Alle HZ+ Artikel lesen und hören
- Exklusive Bilder und Videos aus der Region
- Volle Flexibilität: monatlich kündbar