Young Artist in Residence

„Weggefangen, Platz gegangen“: Wie sich das Kunstprojekt im Heidenheimer Türmle zur Halbzeit entwickelt hat

Ein leerer Raum, keine Vorgaben, keine fertige Idee – nur die Einladung, etwas entstehen zu lassen. Im Heidenheimer Türmle wurde ein künstlerischer Laborversuch gestartet: „Young Artist in Residence“ heißt das Projekt des Kunstvereins, das jungen Kunstschaffenden Raum für Kreativität gibt. Was sich seit der Vernissage alles verändert hat:

Was passiert, wenn man jungen Künstlerinnen und Künstlern vier Etagen, Zeit und völlige gestalterische Freiheit überlässt? Der Leiter des Kunstvereins Heidenheim Rainer Jooß wollte es wissen und startete mit „Young Artist in Residence“ einen von ihm als „Laborversuch“ betitelten Testlauf. Im Türmle ist dadurch unter dem Titel „Weggefangen, Platz gegangen“ eine Ausstellung entstanden, die noch bis zum 24. August zu sehen ist.

Das Interesse an der Ausstellung ist groß: aktuell besuchen fünf bis zehn Personen die Ausstellung zu den regulären Öffnungszeiten (Mittwoch und Samstag), doch es gibt viele Anfragen darüber hinaus. Laut Jooß können individuelle Führungen nach Absprache jederzeit ermöglicht werden und zusätzliche Öffnungszeiten seien bereits in Planung.

Kunst auf vier Ebenen

Die Ausstellung verteilt sich auf die vier Etagen des Türmles, überall ist etwas anderes zu sehen. Im Erdgeschoss inszeniert der Künstler Max Hoffmann eine Lichtshow: alte, anonymisierte Porträts erscheinen nacheinander und verschwinden wieder im Dunkeln. Die Wirkung erinnert an eine Ahnenbildgalerie – vertraut, aber durch die anonymisierten Gesichter nicht zuordnungsbar. Technisch umgesetzt ist es durch das sogenannte Mapping: Dabei werden Bilder oder Videos passgenau auf reale Objekte oder Flächen projiziert, sodass ein räumlicher Effekt entsteht. In diesem Fall tauchen die Gesichter aus der Dunkelheit auf und verschwinden wieder. „Man denkt sofort an eigene Familienbilder, die man zu Hause hat“, sagt Jooß.

Alte Porträts leuchten einzeln auf und verschwinden wieder – Max Hoffmanns Mapping erinnert an eine Ahnenbildergalerie. Foto: Markus Brandhuber

Der Künstler Diken (Fatih Cimdiken), verarbeitet in seiner Arbeit Fragmente aus seiner Kindheit in der Memminger Wanne. Zu sehen sind Videoschnipsel in einem Schacht, die laut Jooß fast wie ein Hologramm wirken. In den gezeigten Ausschnitten geht es um persönliche Erfahrungen, um seine Liebe zu Michael Jackson und das Aufwachsen in einem Wohngebiet, in dem bei der letzten Wahl rund 60 Prozent AFD gewählt haben. „Er will zeigen, dass man dennoch als ‚normales‘ Kind abseits von der Politik aufwachsen konnte“, so der Vorsitzende des Kunstvereins.

Malen mit Publikum

Im zweiten Stock malt Liron Baum weiter an einem Werk, das bei Ausstellungsbeginn noch in den Startlöchern stand, inzwischen hat er den Parkettboden des Raumes auf die Leinwand gebracht – inklusive Sonnenschirmen, die im Bild erscheinen und zugleich als reale Objekte aus dem Bild „heraustreten“. Die gelben Schirme hat Liron mit einem eigenen Logo versehen und bietet sie dem Publikum an: „Ich hoffe, dass Leute damit herumlaufen und so ein Stück des Bildes mitnehmen.“ Wer sich für sein Werk interessiert kann nach Ende der Ausstellung mit Glück sogar das gesamte Bild mit nach Hause nehmen, denn Baum sucht momentan nach einem neuen „Besitzer“ für seine große Leinwand.

Bei Führungen plant er, vor den Augen der Gäste weiterzumalen – ein direkter Einblick ins künstlerische Schaffen. Zudem hat Baum Postkarten seiner Werke gestaltet, die im Türmle verkauft werden. Ein unfertiges Bild markiert er bewusst mit einer aufgehängten Farbpalette – ein Platzhalter, der den Prozess sichtbar machen soll.

Bewegungen sagen mehr als tausend Worte

Sanna Sand zeigt im dritten Stock zwei eindringliche Filmarbeiten. Um den einen Film anzuschauen, legt man sich auf eine Liege und blickt nach oben, wo Sand mit nacktem Rücken zu sehen ist – ihre Hände wandern tastend über ihren Körper. Im zweiten Film, groß projiziert, ist sie selbst in Strumpfhosen gehüllt und an Nägeln fixiert, eine Anlehnung an das Kunstwerk, das in der Mitte des Raumes zu sehen ist. Hier handelt es sich um von ihr benannte „Würste“, also gefüllte Feinstrumpfhosen. Im Video sieht man, wie ihre Bewegungen das fragile Gewebe der Feinstrümpfe aufreißen. Dazu sagt sie im Video noch ein paar Sätze: „Ehe man sich versieht, ist man bloß noch ein Stück Schinken.“ Die Aussage ist klar: Frauen werden häufig auf ihre Körper reduziert und das möchte Sand in ihrem Video verdeutlichen.

Sanna Sand ist in einer Filmprojektion in Feinstrumpfhosen zu sehen, ihre Bewegungen lassen das fragile Material nach und nach aufreißen. Foto: Markus Brandhuber

Aurelia Maurer arbeitet weiter an ihrem großformatigen Mobile, das über zwei Etagen hängt. Der Hintergrund ist aktuell noch schwarz – eigentlich sollte er als interaktives Spiel in die Komposition integriert sein. Ein Kunstwerk weiter ist eine goldene Walnuss auf einem Spieß zu sehen, die Besucherinnen und Besucher einlädt, sie zu berühren und hin und her zu schwingen, „es ist von der Künstlerin ausdrücklich erwünscht, sie anzufassen“, so Jooß.

Alintschick (Alina Dick) hat eine Skulptur aus gefüllten Strumpfhosen geschaffen, die mit Latex gehärtet wurden. Der Titel ist „Not not a knot“, also "Nicht nicht ein Konten". Zwei Stunden vor der Vernissage änderte sie noch spontan die Farbgebung – ein echtes „Work in Progress“, wie Jooß betont.

Ideen sprudeln – auch nach dem 24. August

Die Ausstellung läuft noch bis zum 24. August, aber schon jetzt denk Rainer Jooß an die Zukunft: Für die Zeit danach steht bereits fest, dass es jedes Jahr im Türmle wieder stattfinden soll. Denkbar ist für den Kunstvereins Vorsitzenden vieles: Jazzkonzerte über vier Etagen, Theaterstücke, gemeinsame Aufenthaltsorte vor dem Türmle, vielleicht mit einem „Stehtisch“ am Geländer. „Alles ist schon da – man muss nur loslegen“, sagt Jooß mit Blick auf neue Künstlerinnen und Künstler, die sich beteiligen möchten.

Er möchte das Projekt jährlich über zwei bis vier Monate weiterführen – und dabei offen bleiben für alles: Bildhauerei, Literatur, Musik, Performance, Installation. Ganz gleich, ob allein oder in Gruppen. Die Vision: ein Ort für künstlerisches Experiment, Austausch und Gemeinschaft.

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