Franz Kafka war ein Vielschreiber. Etwa 600 Briefe und Ansichtskarten mit Nachrichten aus seiner Feder erreichten zwischen 1912 und 1917 Felice Bauer. Die komplizierte Liebesbeziehung zwischen dem deutschsprachigen Schriftsteller aus Prag und seiner in Berlin lebenden Verlobten mag inhaltlich nicht jeden anrühren. Mancher dürfte angesichts dieser ausladenden Form der Konversation dennoch leuchtende Augen bekommen: Welch ungeheure Zahl an Briefmarken legte im besagten halben Jahrzehnt den Weg zwischen Moldau und Spree zurück!
Heute wirkt ein derartiger Austausch völlig aus der Zeit gefallen. Die Menge privater Briefe nimmt seit Jahren immer weiter ab. Wer sich etwas zu sagen hat, wählt stattdessen bevorzugt den Computer oder – noch unkomplizierter – das Smartphone. Nicht eben zur Freude von Briefmarkensammlern: Ihr Nachschub war mal deutlich größer.

Auch Helmuth Feichtenbeiner beobachtet diese Entwicklung aufmerksam; schon aus Eigeninteresse. Und er räumt ein: „Ich sammle lieber Postkarten, als selbst welche zu schreiben.“ Dem 75-Jährigen, seit 1963 Mitglied der Heidenheimer Briefmarkenfreunde und seit 2001 deren Vorsitzender, ist dennoch nicht bang um den Fortbestand der klassischen Postwertzeichen: „Solange sie als Werbemittel eingestuft werden, wird es sie geben.“ Und mit ihnen Sammler, die mit mehr oder weniger Enthusiasmus bei der Sache sind, gezielt oder querbeet nach Material für ihre Alben suchen.
Der Einstieg gleicht sich oftmals: Zu Weihnachten oder zum Geburtstag gibt’s ein Briefmarkenalbum. Anschließend wandert alles dorthin, was zuvor von einem Umschlag abgelöst und sorgsam getrocknet wurde. Einst standen zudem in den Postämtern die Abnehmer Schlange, wenn neue Sondermarken herausgegeben wurden.

Diese Zeiten haben sich zu Feichtenbeiners Leidwesen geändert: „Die Deutsche Post AG hat leider kein großes Interesse mehr an der Philatelie und bietet die damit verbundenen Dienstleistungen nur noch über ihre Sonderstempelstelle in Weiden an.“ Die Postagenturen vor Ort verfügten hingegen nicht über das gesamte Sortiment und erhielten keine Nachlieferungen, wenn bestimmte Marken vergriffen seien.
Was also tun, wenn sich auch der eigene Briefkasten nicht als ergiebige Fundgrube eignet? Ausgerechnet digitale Formen der Kommunikation erweisen sich heute als besonders hilfreich bei der Suche nach klassischen Papiermarken aus der analogen Ära: Im Internet findet sich ein breites Angebot. Bei den regelmäßig von Vereinen organisierten Auktionen können Interessenten ebenfalls fündig werden. Bisweilen sind dort kistenweise Briefmarken zu haben, die zuvor unbeachtet irgendwo in einem Schrank oder in einer Schublade der Dinge harrten: „Wir leben in einer Erbengesellschaft“, sagt Feichtenbeiner, „und deshalb kommen immer wieder ganze Sammlungen auf den Tisch, für die die Hinterbliebenen keine Verwendung haben.“

Manches stammt auch aus der mittlerweile seit 70 Jahren währenden Kooperation mit dem Kinderwerk Lima. Dieses liefert unablässig frische Ware an und erhält dafür im Gegenzug bares Geld für seine Arbeit überwiesen.
Feichtenbeiner will verhindern, dass sich Interessierte in der kaum überschaubaren Masse verzetteln: „Man sollte nicht planlos vorgehen, sondern sich begrenzen.“ Heißt: Aller Marken habhaft zu werden, die in den unter Philatelisten als Standardwerke geltenden Michel-Katalogen aufgeführt sind, ist ebenso wenig zielführend wie bezahlbar. Vielmehr rät der erfahrene Sammler dazu, sich auf bestimmte Themengebiete zu spezialisieren.

Ob Rosen, Pferde, Fußball oder Rathäuser – Feichtenbeiner versichert, dass sich bei einer solchen Vorgehensweise auf Anhieb sehr viel zusammentragen, anschließend dann zielgerichtet ergänzen und qualitativ aufwerten lässt. Die Befürchtung, die Motivsuche könne schnell an ihr Ende gelangen, lässt der 75-Jährige aus eigener Erfahrung nicht gelten: „Eine Sammlung ist niemals fertig, weil immer etwas Neues dazukommen kann.“
Findet Feichtenbeiner Gehör mit seinen Tipps? Gelingt es ihm, andere für sein Hobby zu begeistern? Immerhin tut Nachwuchs auch den Heidenheimer Briefmarkenfreunden gut. Sie stehen im Vergleich zu anderen Vereinen zwar respektabel da, sind mit heute 80 Mitgliedern jedoch ein ganzes Stück von jenen 130 entfernt, die einmal den Höchstwert markierten.

Feichtenbeiner bestätigt die Vermutung, dass es im Jahr 2025 mitunter als uncool gilt, wenn junge Menschen Briefmarken sammeln: „Das ist leider so, und es tut mir weh.“ Dem gegenüber stehe nämlich ein gewaltiger Mehrwert und persönlicher Gewinn: Wer sich mit einem bestimmten Sachgebiet befasse, erweitere zwangsläufig sein Wissen.
Als sein persönliches Steckenpferd bezeichnet Feichtenbeiner den alpinen Skisport. Auch inspiriert durch seine eigene Übungsleitertätigkeit, widmet er sich bereits seit einem halben Jahrhundert diesem thematischen Schwerpunkt, der in Briefmarkenform unter anderem die wesentlichen Veränderungen hinsichtlich Material, Schwungformen und Kippstangentechnologie widerspiegelt.

Weiterentwicklung geht stets mit Veränderung einher. Und so zeigt sich Feichtenbeiner zuversichtlich, dass auch in Zukunft Briefmarkenalben bestückt werden, wenn auch möglicherweise in modifizierter Form. „Die Sammler sterben nicht aus“, sagt er, gibt aber seiner Überzeugung Ausdruck, dass ein grundsätzlicher Wandel im Gange ist: „Viele Junge folgen nicht mehr dem Beispiel voriger Generationen, werterhaltende Gegenstände wie Bilder oder Teppiche zu sammeln.“
Vorbei also die Tage, in denen so mancher in der Briefmarkensammlung einen verlässlichen Teil seiner Altersabsicherung sah? Feichtenbeiner äußert sich diplomatisch: „In der Philatelie gibt es natürlich wertvolle Spitzenstücke. Einen besonderen materiellen Wert hat dabei immer das, was andere gerne besitzen würden. Was das ist, wird oft von Moden bestimmt.“

Gleiches gilt für die Frage, ob die inzwischen weit verbreiteten selbstklebenden Marken ebenso zum Sammlerstück taugen wie die althergebrachten nassklebenden. Feichtenbeiner will nicht von einem Entweder-oder sprechen, vielmehr von einem Sowohl-als-auch: „Ich würde sie nicht verteufeln, denn auch sie sind gefragt.“ Bedeutet: offen sein für Neues, um die Attraktivität des Briefmarkensammelns zu bewahren, bestenfalls sogar zu erhöhen.
Dazu beitragen könnte nach 1983 und 2008 eine weitere Sondermarke zu Ehren Kafkas. Erscheinen könnte sie zum Beispiel 2033. Dann jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal.
Philatelistische Städtepartnerschaft
Insgesamt 55 Partnerschaftskongresse verbanden – auch während der Corona-Pandemie – ohne Unterbrechung die organisierten Briefmarkensammler aus Heidenheim, St. Pölten (Österreich) und Clichy (Frankreich). Letztgenannte sind nach der Auflösung des dortigen Vereins nicht mehr dabei. An ihre Stelle tritt jetzt Jihlava (Tschechien).

