„Die drei Musketiere“

Warum beim Naturtheater Heidenheim erstmals eine IntimitÀtskoordinatorin zum Einsatz kommt

Dörte Jensen bringt den Mitgliedern des Heidenheimer Naturtheaters nicht nur das Fechten bei: FĂŒr „Die drei Musketiere“ kommt sie zudem als IntimitĂ€tskoordinatorin zum Einsatz. Kampf- und Sexszenen haben fĂŒr Jensen mehr gemeinsam als man denken mag.

George liebt Anna und Anna liebt George. Das Problem: Sie dĂŒrfen sich nicht lieben. Denn er ist der Herzog von Buckingham, sie die Königin von Frankreich, und ihre AffĂ€re: im besten Fall problematisch. In einer emotionalen Szene teilen die beiden zuerst eine Umarmung, dann einen Kuss – oder? Cut! Die Szene ist vorbei, Laurin Rupp und Anna Seifert gehen auseinander. UngekĂŒsst. Das Naturtheater Heidenheim probt derzeit das SommerstĂŒck „Die drei Musketiere“, in dem nicht nur gefochten wird, sondern auch geknutscht. Laut Textbuch tun George (Laurin Rupp) und Anna (Anna Seifert) das tatsĂ€chlich. In echt sieht die Sache etwas anders aus. Die Frau, der das zu verdanken ist, heißt Dörte Jensen. Mit ihr kommt im Naturtheater erstmals eine IntimitĂ€tskoordinatorin zum Einsatz.

Sexuelle BelÀstigung im Ensemble verhindern

Eine solche arbeitet primĂ€r in Film- und Fernsehproduktionen, wo sie Schauspieler und Crew bei der Umsetzung intimer Szenen berĂ€t und betreut. Ziel ist es, dass alle Beteiligten respektvoll und sicher miteinander umgehen und es nicht zu sexueller BelĂ€stigung kommt. „Im Theater wird ein solcher Koordinator noch ganz wenig genutzt. Das Naturtheater ist da eine Ausnahme“, berichtet Jensen. Die Anfrage sei von Regisseur Karsten Tanzmann gekommen.

IntimitĂ€t zu koordinieren, fĂ€ngt fĂŒr Jensen bereits beim Umziehen an. Oftmals ziehe sich das Ensemble vor einer Probe gemeinsam im selben Raum um, selbst wenn es getrennte Umkleiden gebe. Dass nicht jeder damit einverstanden sein muss, sei ebenfalls etwas, dass sie als Koordinatorin zu vermitteln versuche: „Man muss nicht zu allem Ja und Amen sagen.“

George, Herzog von Buckingham (Laurin Rupp) und Anna, Königin von Frankreich (Anna Seifert), in einer intimen Szene. Foto: Maximilian Haller

Wenn George und Anna sich kĂŒssen, steht im Textbuch die Szenenangabe „Hollywood’s Greatest Kiss“. Was genau damit aber gemeint ist, war bislang wohl Auslegungssache. Gemeinsam mit Regie und Ensemble hat Jensen also ausgearbeitet, wie so ein Kuss aussehen könnte. „In solchen FĂ€llen kommt manchmal auch die Frage auf, ob es fĂŒr diese Szene ĂŒberhaupt einen Kuss braucht.“ Gerade auf einer FreilichtbĂŒhne mit viel rĂ€umlichem Abstand zum Publikum gĂ€be es auch andere Optionen. Die Folge: George und Anna beziehungsweise Laurin Rupp und Anna Seifert kĂŒssen sich nicht wirklich, der Kuss wird simuliert. Nicht zuletzt zur Freude von Rupps Freundin. „Die wollte nicht, dass Anna und ich uns auf der BĂŒhne kĂŒssen“, erzĂ€hlt der Darsteller.

FĂŒr IntimitĂ€tskoordinatoren geht es nicht darum, anderen eine prĂŒde Sichtweise aufzudrĂŒcken. „Aber man kann nicht davon ausgehen, dass eine intime Szene fĂŒr alle gleichermaßen okay ist. Wenn dann geklĂ€rt ist, was okay ist, kann man in diesem Rahmen viel freier agieren“, ist sich Jensen sicher. IntimitĂ€t auf der BĂŒhne ist fĂŒr sie nicht anderes als eine Art von Choreografie – im Naturtheater erarbeitet Jensen zusammen mit Matthias Fittkau auch die Fechtszenen der „Drei Musketiere“.

Wenn im Textbuch ein Faustschlag ins Gesicht beschrieben wird, ist fĂŒr alle Beteiligten implizit klar, dass der Schlag simuliert wird. Bei einem Kuss ist das eher unklar.

Dörte Jensen, Kampfchoreografin und IntimitÀtskoordinatorin

„Wenn im Textbuch ein Faustschlag ins Gesicht beschrieben wird, ist fĂŒr alle Beteiligten implizit klar, dass der Schlag simuliert wird. Bei einem Kuss ist das eher unklar.“ Als IntimitĂ€tskoordinatorin gebe sie mehr Impulse als Vorgaben, zumal die Regie stets das letzte Wort habe. Und doch sehe sich Jensen als AnwĂ€ltin oder gar Verteidigerin der Schauspielerinnen und Schauspieler.

Neben dem EinverstĂ€ndnis aller Beteiligten hat das Choreografieren intimer Szenen ein weiteres Ziel: Es soll jene Momente beschreibbar und wiederholbar machen, schließlich werden StĂŒcke wie „Die drei Musketiere“ viele Male aufgefĂŒhrt. Bei den Doppelbesetzungen im Naturtheater kommt dazu, dass in vielen verschiedenen Konstellationen geprobt werden muss – fĂŒr jedes Paar soll demnach eine Variante gefunden werden, mit der alle einverstanden sind. „Manchmal bedeutet das eben, dass eine Alternative fĂŒr einen Kuss gesucht wird. Und manchmal muss es das auch – was, wenn beispielsweise ein Schauspieler Lippenherpes bekommt?“, so Jensen.

Naturtheater-Mitglieder begrĂŒĂŸen IntimitĂ€tskoordination

Innerhalb des Ensembles scheint diese Form von Choreografie Anklang zu finden. „Ich finde es sehr gut, dass es diese Workshops gibt“, sagt etwa Anna Seifert. „Wir fĂŒhlen uns dadurch in der Szene gut und sicher.“ Laurin Rupp pflichtet ihr bei: „Ohne diesen Workshop wĂŒrde immer etwas Unsicherheit mitschwingen und die Frage, ob das okay so fĂŒr den jeweils anderen ist.“ Zudem ĂŒberlege man dabei gemeinsam, welche Darstellung fĂŒr das Publikum am sinnvollsten sei und welche Wirkung die Szene haben solle. Denn so skandalös eine AffĂ€re zwischen Herzögen und Königinnen auch sein mag – manchmal braucht sie trotzdem keinen Kuss.

Keine standardisierte Ausbildung

Abseits der BĂŒhne ist Dörte Jensen approbierte Ärztin, Redakteurin und Projektmanagerin in einem medizinischen Fachverlag. Ihre BĂŒhnenkampfausbildung absolvierte sie bei der British Academy of Stage and Screen Combat, der Society of American Fight Directors und Stage Combat Deutschland. Sie ist MitbegrĂŒnderin des Berufsverbandes fĂŒr IntimitĂ€tskoordination und Kampfchoreografie – „allerdings keine ausgebildete IntimitĂ€tskoordinatorin“, wie Jensen erklĂ€rt. In Deutschland ist eine entsprechende Ausbildung nicht standardisiert und immer noch nur begrenzt möglich.

Den Beruf eines IntimitĂ€tskoordinators gibt es seit etwa zehn Jahren. In der Theaterbranche werden solche Experten bislang selten eingesetzt. „Viele Beteiligte haben die BefĂŒrchtung, dass sie dadurch in ihrer KreativitĂ€t eingeschrĂ€nkt werden könnten. Dabei geht es nicht darum, eine Szene millimetergenau zu choreografieren, sondern der Sache einen Rahmen und eine Struktur zu geben, innerhalb derer man sich auch mal ausprobieren kann“, erklĂ€rt Jensen. Ein großer Teil ihres Tuns besteht laut Jensen aus AufklĂ€rungsarbeit, „um zu zeigen, dass das alles nichts Schlimmes ist.“

In Amateurtheatern zu arbeiten, findet Dörte Jensen ĂŒbrigens viel interessanter als in Film- und Fernsehproduktionen: „Ich habe kein Interesse daran, eine Sexszene fĂŒr Netflix zu choreografieren.“