Kinderstück

Pompöse Kostüme und surreale Teepartys: So war die Premiere von „Alice im Wunderland“ im Naturtheater Heidenheim

Ins Wunderland entführt das Naturtheater Heidenheim in diesem Jahr das Publikum des Kinderstücks. Die Welt von Alice und Co. überzeugt mit fantastischen Kostümen und einem surrealen Touch. Die Premierenkritik:

An wie viele unmögliche Dinge denkt der durchschnittliche Deutsche wohl bereits vor dem Frühstück? Eine entsprechende Studie lässt noch auf sich warten, doch zum Vergleich: Bei einer gewissen Weißen Königin aus Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice hinter den Spiegeln“ sind es ganze sechs. Ein halbes Dutzend Unmöglichkeiten. „Manchmal denke ich bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge“, heißt es da. Womit wir bei „Alice im Wunderland“ wären. Und beim Naturtheater. Dieses hat nämlich etwas sehr wohl Mögliches erdacht und auch getan. Das diesjährige Kinderstück führt das Publikum direkt durch den Kaninchenbau ins Wunderland. Am Sonntag war Premiere.

Bunter Vorhang auf der Naturtheater-Freilichtbühne

Um gleich bei wundersamen Elementen zu bleiben: Mit etwas bislang als unmöglich Erachtetem wartet das von Bettina Ostermayer und Oliver von Fürich inszenierte Stück bereits nach wenigen Minuten auf. Wenn Alice – sehr energetisch und mit beeindruckender Ausdauer gespielt von Maren Boss – durch den besagten Kaninchenbau purzelt, wird die im Hintergrund vollzogene Verwandlung der realen in die Fantasiewelt von mehreren, übergroßen, bunten Fahnen verdeckt. Ein Vorhang für die Freiluftbühne – das gab es dort wohl noch nie. Warum eigentlich, möchte man sich da fragen. Denn es funktioniert ausgesprochen gut.

Ebenso effektiv kontern Ostermayer und von Fürich eine traditionelle Schwäche der Kinderstücke im Naturtheater. Naturgemäß dominiert das Bühnenbild der Erwachsenenproduktion, doch in diesem Jahr reichen einige überdimensionierte Spielkarten im Hintergrund aus, um die barocke Kulisse der „Drei Musketiere“ auf so schlichte wie erfolgreiche Weise in den Hintergrund treten zu lassen.

Ein Vorhang auf der Freilichtbühne? Gab es so im Naturtheater wohl noch nie. Foto: Oliver Vogel

Der wahre Star der Inszenierung, und der Aspekt, der den Blick voll und ganz auf das Ensemble und somit weg von der Kulisse zieht, sind allerdings die Kostüme. Das von Max Barth entworfene Konzept ist sowohl in Form als auch in Funktion eine absolute Punktlandung und ein permanenter Hingucker.

Wo soll man da nur anfangen? Bei der Grinsekatze (Anke Rißmann-Eckle), die im purpurnen Pimp-Dress samt prolliger Goldkette und Pelzmantel daherkommt. Oder dem buchstäblich in der Mitte geteilten Diener (Martin Dürr) der Wunderland-Royals, der sich je nach Rolle entweder von seiner linken oder seiner rechten Seite zeigt. Selbst die wandelnden Objekte, mit denen Alice auf ihrer Irrreise interagiert, sind fantastisch gestaltet. Ein simpler Tisch, hier dargestellt von Charlotte Eckle, setzt sich aus einer Art Reifrock in Disco-Optik, dessen Stäbe aus den Schuhen der Darstellerin sprießen, zusammen. Auch für Ausflüge in die Kunst der Marionetten ist sich die Produktion nicht zu schade. So mimt Andreas Dierolf etwa eine Tür beziehungsweise deren anthropomorphen Türknauf und Ralf Käpplinger steuert den eierförmigen Humpty Dumpty ganz direkt per Fäden.

Bemerkenswerte Kostüm-Details

Barths Blick fürs Detail zeigt sich im Laufe der Aufführung immer wieder. Die Gäste der anfänglichen Teeparty sind ganz und gar in Blau gekleidet. Einige der Darstellerinnen und Darsteller tauchen im Verlauf der Handlung in anderen Rollen erneut auf. Deren Kostüme und wunderliche Eigenheiten liefern subtile Anhaltspunkte auf jene Parallelen – man beachte beispielsweise die enorm langen Haare eines Party-Gastes (Markus Kübler), die sich später in Form der ebenso langen Ohren des Märzhasen wiederfinden. Details wie diese fallen womöglich erst beim zweiten oder beim dritten Besuch auf. Oder nie. Doch sie sind da, und da sind sie gut.

Gut, mehr als gut sogar, ist zudem die schauspielerische Leistung des Ensembles. Insbesondere den wunderlichen Gestalten und Geschöpfen des Wunderlands merkt man an, dass deren Schauspieler sichtlich viel Spaß an ihren Rollen haben, sei es der herrlich überzogene Hutmacher (Christine Frühe-Böhni) oder auch die schrill-sadistische Herzkönigin (Stephanie Seifert). Dass diese Euphorie trotz knackiger 30 Grad und all den Perücken nicht abflacht, verdient – ganz im Sinne des Hutmachers – ein Hut ab!

Eine Teeparty: (von links) der Hutmacher (Christine Frühe-Böhni), die Schlafmaus (Vincent von Fürich), der Märzhase (Markus Kübler) und Alice (Maren Boss). Foto: Oliver Vogel

Zwei Höhepunkte dieser „Alice“-Inszenierung gestalten sich in Szenen, in denen Kostüm und Kulisse praktisch miteinander verschmelzen. Als Alice durch ein Meer aus sonnenbebrillten Blumen wandert – von denen sie direkt Bodyshaming erfährt – spielt sich eine Volksszene ab, in der das Ensemble gleichzeitig als Bühnenbild agiert.

Ähnlich mutet die Begegnung mit der von Manfred Lohmüller verkörperten Raupe an. Während der Darsteller Shisha-rauchend auf einem der Balkone sitzt, wird sein Konterfei auf einen runden Bildschirm inmitten der Freilichtbühne übertragen – der Kopf der Raupe. Deren Segmente schweben zunächst in Form übergroßer Lollis in der Gegend umher, wo sie auf Alice’ Berührungen reagieren, nur um daraufhin zum Leib der Raupe zu verschmelzen. Auch hier sorgt das Ensemble dafür, dass sich diese Segmente sanft winden und fast schon hypnotisch wirken.

Episodenhafte Handlung vielleicht zu abstrakt für kleine Kinder

Die Inszenierung orientiert sich in weiten Teilen an Lewis Carrolls Vorlage. Für ganz kleine Besucherinnen und Besucher mögen der typisch Carrollsche, surreale Touch und die episodenhafte Handlung bisweilen etwas zu abstrakt sein, etwas ältere Kinder kommen aber definitiv auf ihre Kosten.

Am Ende kommt’s zudem, wie es kommen muss: Alice findet trotz aller Widrigkeiten den Weg zurück in die reale Welt. Dort tanzt und singt sie gemeinsam mit sämtlichen Irren und Nicht-so-Irren ein Lied, welches eigenes von Christine Frühe-Böhni für diese Inszenierung geschrieben und komponiert wurde. Den typischen „Alice“-Sprech mag dieser Song vielleicht nicht zu hundert Prozent treffen, auf die Freilichtbühne des Naturtheaters und nicht zuletzt zu dieser „Alice im Wunderland“ passt er dafür umso besser.

Aufführungen bis Ende August

Das Kinderstück „Alice im Wunderland“ gibt es immer mittwochs und sonntags bis einschließlich 27. August, jeweils ab 15 Uhr, zu sehen. Die beiden finalen Aufführungen am Samstag und Sonntag, 29. und 30. August, beginnen jeweils um 20 Uhr. Karten gibt es unter anderem im Pressehaus in Heidenheim sowie unter hz-ticketshop.de.

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