Lesergrief

Politische Einseitigkeit oder Unkenntnis der israelisch-palästinensischen Geschichte?

Zum Leitartikel von Stefan Kegel vom 23. September im überregionalen Teil der gedruckten Ausgabe, den die Südwestpresse in Ulm verantwortet.

Was Kegel in seiner Kolumne schreibt, kann ich so nicht stehen lassen. Entweder ist es politische Einseitigkeit, die aufgrund unserer Geschichte durchaus verständlich, aber nicht richtig ist. Oder es handelt sich um Unkenntnis der israelisch-palästinensischen Geschichte, nicht erst seit der Staatsgründung Israels.

Nicht nur Israel, sondern die Große Mehrheit der Staaten, die Palästina anerkannt haben, sagen, dass die Hamas zukünftig keine politische Bedeutung mehr haben darf. Ihr Überfall auf israelische Siedlungen, die Ermordung von weit mehr als 1300 Menschen, die Entführung von und das Schachern mit den Geiseln auch heute noch ist zutiefst verachtenswert und delegitimiert sie für jedwede politische Tätigkeit in der Zukunft. Man sollte überlegen, ob man die maßgeblichen Anführer, die die israelischen Angriffe überlebt haben, vor den Internationalen Strafgerichtshof stellen kann.

Ich habe vor ca. 45 Jahren in einem Kibbuz wenige km östlich des Gazastreifens gearbeitet und war schockiert, mit welchen biblischen Argumenten einige Israelis Anspruch auf große Teile des vorderen Orients stellten (nicht nur in den besetzten Gebieten). Aber ich war auch schockiert, auf welche Art Kinder im Gazastreifen politisch radikalisiert wurden. Mit Holzgewehren bewaffnet marschierten sie auf dem Schulhof und sangen Lieder, vermutlich vom Untergang Israels.

Was die israelische Führung im Gazastreifen durch das Militär betreibt, ist nicht mit dem Völkerrecht vereinbar – egal, was sich im November 2023 abgespielt hat; auch wenn man das Verteidigungsrecht Israels voll akzeptiert. Ob man das nur Genozid, Völkermord, Zermürbung des Gegners durch Aushungern der Bevölkerung, Verweigerung von medizinischer Versorgung in einem besetzten Gebiet bezeichnet: Es ist nicht durch die „Kriegsregeln“ des humanitären Völkerrechts gedeckt!

Das „Problem Gaza“ ist aktuell. Viel gefährlicher sehe ich die Entwicklung im Westjordanland an. Die radikalen Siedler haben getrickst, um illegal Land zu besiedeln, haben in Dörfern Feuer gelegt, verprügelt, ermordet. Und die Soldaten schauten über Jahrzehnte weg. Seit fast zwei Jahren haben die Verstöße deutlich zugenommen, und die radikalen Siedler stecken nun sogar in Uniform. Dieses Unrecht ist gut dokumentiert, selbst im öffentl.-rechtl. TV kann man sich in den Mediatheken informieren.

Es waren nicht die Palästinenser, die den israelischen Präsidenten Rabin vor 28 Jahren ermordet hatten, weil er einen Frieden mit den Palästinensern aushandeln wollte. Es war der radikale Siedler Jigal Amir. Und Leute, die in Deutschland aufgrund ihrer radikalen Äußerungen in Haft wären und selbst in Israel vorbestraft sind (Smotrich, Ben-Gwir), bestimmen die israelische Politik (Smotrich: Gaza ohne Palästinenser wäre die Riviera des Nahen Ostens).

Genehmigungen für neue Siedlungen, die eine Zwei-Staaten-Lösung durch weiteres Zertrennen der Palästinensergebiete praktisch unmöglich machen, werden erteilt. Und diese Besetzungen sind völkerrechtswidrig. Aber wenn ich erwähne, dass ich auf den Westbanks produzierte Waren boykottiere, werde ich als Antisemit beschimpft. Leider sind 70 bis 80 Prozent der Israelis gegen eine Rückgabe des Westjordanlands.

Ich beteilige mich nicht an den aktuellen propalästinensischen Demonstrationen. Bei solchen habe ich sowohl in Deutschland als auch in England durch Befragen der Teilnehmer den Eindruck bekommen, dass sehr viele Israelfeinde mitmarschieren, die das Treiben der Hamas als legitim betrachten. Aber eine Anerkennung eines Staates Palästina sogar von Deutschland würde Druck erzeugen und auch weitere Israelis zum Nachdenken bringen.

Martin Sattler, Heidenheim