Das Landestheater Tübingen brachte am Donnerstag im Rahmen des Theaterrings das Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ vor knapp 500 Menschen auf die Bühne der Waldorfschule. Das analytische Drama, 1808 von Heinrich von Kleist geschrieben, gehört 2026 zur Abiturlektüre – weswegen der Saal überwiegend mit Heidenheimer Schülerinnen und Schülern gefüllt war.
Subtiles Ton- und Lichtdesign
Die Handlung dürfte den meisten bekannt sein: Ein Gerichtsprozess, in dem Kleist das Motiv des schuldigen Richters übernimmt. Nach und nach entfaltet sich dabei der bittere Tatbestand des Vorfalls rund um den zerbrochenen Krug – im Stück Metapher für die sexuelle Nötigung an Eve durch Adam. In der Inszenierung von Alexander Marusch werden unangenehm lange Dialogpausen bewusst von subtilem Ton- und Lichtdesign unterstrichen und in der beklemmenden Stille hallt die Frage nach Transparenz und Gerechtigkeit nach: Wer schützt die Opfer, wenn die Täter die Regeln bestimmen?
Eines der Themenfelder im Deutsch-Abitur ist das Reflektieren des Sprachgebrauchs im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Ein Beispiel des Abends: Richter Adam wirkt mit seiner verniedlichenden Wortwahl durchweg auf das leidtragende „Evchen“ ein. Martin Brinkmann verkörpert Adam als bedrohlich autoritär und gleichzeitig unfähig in Bezug auf die korrekte Ausübung seines Amtes. Das Zitat „Sprich, mein Herzchen. Du bist vernünftig“ mag in der Lektüre zunächst aufrichtig wirken, macht im Kontext der Inszenierung aber klar, dass hier nicht der Wahrheit Raum gegeben, sondern durch Erpressung des „Dummerchens“ ein braves Mitspielen verlangt wird.

Macht wird, wie Kleist zeigt, damals wie heute zur Täuschung und Selbsterhaltung genutzt. Bemerkenswert sind Parallelen zu aktuellen Enthüllungen: Wenn während der Verhandlungspause im Stück plötzlich alle außer Eve übertrieben munter speisen und zechen, erinnert dies an Zustände, von denen Beteiligte lieber profitieren, als einzuschreiten. Dazu kommt die Kontrolle von Tätern über andere und somit den Aufarbeitungsprozess – ermöglicht durch Druckmittel. Beweise, wie jüngst die Epstein-Akten in den USA, werden mutmaßlich aufgrund potenzieller Inkriminierung weiterer Instanzen zurückgehalten. „Mitwissende und Täter bleiben so geschützt und Gerechtigkeit verwehrt.“ Mit diesen Worten beschreibt die dramaturgische Leiterin Christine Richter-Nilsson das kaputte und zugleich reale System, welches das Stück beleuchtet.
Aufgezeigt wird dies auch durch die facettenreiche Darbietung von Sabine Weithöner, die als Eves Mutter die Aufklärung an der tragischerweise falschen Stelle einfordert. Die auf der Bühne gezeigte Justiz kann und will weder Realität reparieren noch wirkliches Recht sprechen. Im Schlussmonolog, von Marusch zu einem Dialog zwischen Eve und allen Anwesenden umgeschrieben, wird erneut das Leiden unter dem missbräuchlichen System deutlich.
Parallelen zu Jeffrey Epstein und Sean Combs
Zwar im Gespräch, aber doch alleingelassen von der Gesellschaft, drückt Sarah Liebert als Eve kraftvoll den Schmerz bagatellisierter Opfer aus. Kleists Lust- und Leidspiel ist trotz der Entstehung im 19. Jahrhundert auch heute im höchsten Maße aktuelle Gesellschaftskritik über Missbrauch von Macht zur Verschleierung belastender Tatsachen. Die aktuell vermehrt durchleuchteten Fälle Epstein und Combs aus den USA sind erschreckende Realitäten derselben Dynamik: Menschen in Machtpositionen nutzen ihre Stellung für sexuelle Gewalt, während Opfer um Anerkennung und Gerechtigkeit kämpfen. Die Inszenierung in der Waldorfschule wirkt wie ein literarischer Spiegel aus der Vergangenheit, der jene Mechanismen entlarvt, die bis heute fortbestehen.