Verfassungswidrig? Legastheniker rügen Zeugnisvermerke
Wer stellt jemanden ein, in dessen Zeugnis steht: «Auf die Bewertung von Rechtschreibung wurde verzichtet»? Drei ehemalige Abiturienten aus Bayern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung meinen, dass viele Arbeitgebende durch den Hinweis abgeschreckt werden. Sie klagten dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht. «Jeder, der das liest, kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und grottenschlecht für alles ist», hieß es in ihrer Stellungnahme, die Anwalt Thomas Schneider in der Verhandlung am Mittwoch in Karlsruhe verlas. Ein Urteil wird erfahrungsgemäß erst in einigen Monaten erwartet.
Um Menschen mit Behinderung eine Chance in Schulprüfungen zu geben, erhalten sie einen «Nachteilsausgleich». Das kann bei Legasthenikerinnen und Legasthenikern zum Beispiel bedeuten, dass sie mehr Zeit zum Schreiben bekommen. Außerdem gibt es in vielen Bundesländern, etwa Bayern, die Option auf den sogenannten Notenschutz. Auf Antrag lassen die Lehrkräfte die Rechtschreibung nicht in die Noten mit einfließen. Sie vermerken im Zeugnis, dass sie die Leistung anders bewertet haben. Nach Auffassung der Schulbehörden soll dies die Aussagekraft von Zeugnissen sicherstellen, sagte der Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth.
Gefühl der Diskriminierung
Die drei bayerischen Schüler, die 2010 Abitur machten, sehen sich durch die Zeugnisbemerkung diskriminiert und klagten sich durch die Instanzen. 2015 erteilte ihnen das Bundesverwaltungsgericht eine Absage, weil nach seiner Ansicht kein Anspruch auf Notenschutz bestehe ohne dessen Dokumentation im Zeugnis.
In der Verhandlung vor dem Verfassungsgericht bekräftigten die Männer in ihrer Stellungnahme, dass die Kommentare sie im Berufsleben einschränken. «Das ist, als ob wir einen Stempel bekommen mit der Aufschrift: Vorsicht, willst du mich wirklich einstellen?»
Die Zeugnisbemerkungen schafften die nötige Transparenz, dass vom allgemeinen Bewertungsstandard abgewichen worden sei, argumentierte dagegen der bayerische Kultusminister, Michael Piazolo (Freie Wähler). Das sei wichtig, weil gerade Abschlusszeugnisse objektiv vergleichbar sein müssten. Die bayerische Gesetzeslage sei dabei nicht einmalig, mehrere andere Bundesländer handhabten es ähnlich.
Einfache Hilfsmaßnahme?
Der Anwalt der Kläger stellte die Abgrenzung zwischen Notenausgleich und Notenschutz infrage. Er sehe keinen Unterschied zwischen einer Hilfsmaßnahme wie einem Laptop, der automatisch die Rechtschreibkontrolle übernehme, und der Nichtbewertung der Rechtschreibung. Auch der Senat stellte der bayerischen Staatsregierung viele Fragen zu der Unterscheidung zwischen Nachteilsausgleich, Notenschutz und was wo einsortiert wird. Thema war unter anderem auch, welche Rolle moderne Technik wie Sprachassistenten und Rechtschreibprogramme für die Maßnahmen spiele.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, betonte, dass in Schulen alles getan werde, um Diskriminierung zu vermeiden. Schülerinnen und Schüler zeigten in der Regel nicht mit dem Finger auf die Betroffenen oder seien neidisch auf die Hilfsmaßnahmen. Quasi in jeder Klasse gebe es inzwischen jemanden mit Legasthenie.
3,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bayern hätten eine Lese- und Rechtschreib-Störung, sagte der berichterstattende Verfassungsrichter Josef Christ. Laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sind etwa zwölf Prozent der Bevölkerung in Deutschland von mindestens einer der Beeinträchtigungen betroffen.
Eltern verunsichert
Tanja Scherle, Vorsitzende dieses Bundesverbands und bayerische Landesvorsitzende, sprach von vielen verunsicherten Eltern. Bei der Entscheidung, ob Notenschutz beantragt und damit ein Zeugnisvermerk in Kauf genommen werden soll, stünden sie vor der großen Frage: «Verbaue ich meinem Kind die Zukunft?», sagte die Mutter dreier Legastheniker.
Der Anwalt des Verbands, Johannes Mierau, verwies darauf, dass die Zeugnisvermerke Grundrechte konterkarierten. Das Grundgesetz verbietet es, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen. Es ist außerdem anerkannt, dass sie einen Anspruch auf Chancengleichheit bei Prüfungen haben.
Für viele Arbeitgebende sei der «Warnhinweis» auf dem Zeugnis nicht wichtig, sagte Daike Witt vom Zentralverband des Deutschen Handwerks. Auswahlentscheidungen in der Arbeitswelt seien oft komplexer. Wenn für einen Beruf die Rechtschreibung wichtig sei, könnte sie auch in speziellen Eignungstests geprüft werden.