Traunstein und das Andenken an Papst Benedikt XVI.
Es war vermutlich vergoldet, hatte einen Edelstein und war von unschätzbarem Wert für die katholische Kirche: Ein Brustkreuz des emeritierten Papstes Benedikt XVI. ist aus einer Traunsteiner Kirche gestohlen worden. Es verschwand zusammen mit Bargeld aus einer Kasse. Die Hintergründe? Zunächst unklar.
Weniger als 500 Meter von dem Tatort, der Traunsteiner Kirche St. Oswald, entfernt geht es in ganz anderer Form um das Andenken an den emeritierten Papst: Während Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) in der Kirche Spuren sichern, beginnt etwa fünf Fußminuten davon entfernt vor dem Landgericht Traunstein am Dienstag der Prozess um Schmerzensgeld für einen Betroffenen von sexuellem Missbrauch.
Dort findet die Vorsitzende Richterin Elisabeth Nitzinger-Spann deutliche Worte für das Verhalten Ratzingers als der noch Erzbischof von München und Freising war. Denn der Kardinal habe – so betont sie es bei der Erläuterung ihrer vorläufigen Rechtsauffassung – «entsprechend Kenntnis von dem Vorleben» des umstrittenen Priesters H. gehabt.
Sie begründet diese Auffassung mit der Teilnahme Ratzingers an einer Sitzung im Jahr 1980, in der beschlossen wurde, dass der wegen Missbrauchsverdachts aus Nordrhein-Westfalen versetzte Priester in der Münchner Erzdiözese eingesetzt wird.
Er war zwölf Jahre alt
Heute ist bekannt, dass Priester H. rückfällig wurde und auch in Bayern nach seiner Versetzung noch Kinder missbrauchte; unter anderem Mitte der 1990er Jahre in Garching an der Alz den damals zwölf Jahre alten Ministranten Andreas Perr, der vor dem Landgericht Traunstein neben Priester H. auch das Erzbistum und Ratzinger auf Schmerzensgeld verklagt hat.
Der Priester sei nach der Sitzung 1980 «ohne weitere Beschränkungen und Vorkehrungen» übernommen und weiter in der Kinder- und Jugendseelsorge eingesetzt worden, sagt die Richterin. Aus ihrer Sicht ergibt sich auch aus dem damaligen Verhalten Ratzingers ein Schmerzensgeldanspruch des Klägers Perr gegen das Erzbistum.
Ein Gericht, das einem Papst – wenn auch in einem Zivilverfahren – ganz offen und deutlich eine Mitschuld an einem Missbrauchsfall zuspricht – das ist womöglich ein historischer Tag in der Justiz- und auch der Kirchengeschichte. «Das Traunsteiner Gericht bringt die Verantwortung von Joseph Ratzinger als damaliger Erzbischof von München-Freising für den unverantwortlichen Einsatz von Peter H. sachgerecht auf den Punkt», sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller.
Die Teilnahme Ratzingers an der Sitzung hatte bei der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens im vergangenen Jahr Schlagzeilen gemacht. Der emeritierte Papst hatte zunächst bestritten, an der Sitzung teilgenommen zu haben, dann aber von einem Irrtum gesprochen und eingeräumt, doch dabei gewesen zu sein. Er teilte damals mit, bei der Sitzung seien die Vorwürfe gegen Priester H., die zu seiner Versetzung nach Bayern führten, nicht zur Sprache gekommen und bestritt, davon Kenntnis gehabt zu haben.
Bis kurz vor dem Traunsteiner Prozess war auch Ratzinger selbst noch Beklagter in dem Verfahren. Weil aber nach seinem Tod an Silvester noch immer nicht klar ist, wer seine Rechtsnachfolge antritt und damit quasi auch das Verfahren erbt, wurde es abgetrennt.
300.000 Euro Schmerzensgeld gefordert
Weil der Kläger seine Klage gegen Ratzingers Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, zurückzog und sich Missbrauchstäter Priester H. voraussichtlich auf Amtshaftung des Bistums berufen kann, geht es im aktuellen Traunsteiner Prozess im Wesentlichen noch um die Frage, wie viel Geld das Erzbistum München an Perr zahlen muss.
300.000 Euro Schmerzensgeld fordert er. Er sei «um sein Lebensglück gebracht, aus der Lebensbahn geworfen» worden, sagt sein Anwalt Andreas Schulz. Der Mann habe «deswegen Zuflucht in Drogen und Alkohol» gesucht – «mit all seinen Folgen für seinen beruflichen Lebensweg».
Der Anwalt des Erzbistums, Dieter Lehner, beantragte am Dienstag, diese Klage abzuweisen. Den Antrag auf Feststellung der Schuld erkannte er aber an. Will heißen: Das Erzbistum erkennt an, dass es zahlen muss und will das auch tun. Wie hoch die Summe ist, muss aber das weitere Verfahren zeigen.
Zu klären ist in erster Linie, ob Perrs Alkohol- und Drogensucht auf den Übergriff im Pfarrhaus vor rund 30 Jahren zurückzuführen ist. Zwei Wochen hat er nun Zeit, um seine Argumentation noch einmal darzulegen. Am 14. Juli will das Gericht dann mitteilen, wie es in dem Verfahren weitergeht.
Ein Urteil ist dann keinesfalls zu erwarten, wie Richterin Nitzinger-Spann sagte – sondern ein Beweisbeschluss. Womöglich bestellt das Gericht dann einen Gutachter, der erörtern muss, ob die Suchtprobleme des Klägers ihre Ursache darin haben, dass er von einem katholischen Priester missbraucht wurde.
Das Verfahren soll weitergehen
Was Ratzingers persönliche Verantwortung angeht, will Klägeranwalt Schulz nicht lockerlassen. Das Verfahren soll nach seinem Willen weitergehen, sobald klar ist, wer Erbe des emeritierten Papstes ist. 50.000 Euro Schmerzensgeld fordert er von den Rechtsnachfolgern. Dabei wird es dann vor allem um seine Rolle als Präfekt der Glaubenskongregation gehen.
Denn als solcher unterzeichnete Ratzinger einen Brief, in dem er jenem Priester H. gestattete, die Heilige Messe mit Traubensaft statt Messwein zu feiern. Das Münchner Erzbistum hatte mit dem Hinweis, dass H., wenn er trank, Kindern gegenüber übergriffig wurde, um die Ausnahmeregelung gebeten.
Im Antwortschreiben Ratzingers sehen seine Kritiker den unmittelbaren Beweis dafür, dass er über den Fall Bescheid wusste und nichts dagegen unternahm, dass der Priester weiter in der Seelsorge eingesetzt wurde, wo er weiter Kinder wie Andreas Perr missbrauchte.
LKA-Sprecher Ludwig Waldinger sagt: «Der immaterielle Schaden für die katholische Kirche ist natürlich enorm.» Er spricht über das gestohlene Kreuz.