Flirt mit dem Limit: Tour zwischen Sicherheit und Spektakel
Tony Martin versteht die Welt nicht mehr. Der tragische Tod von Gino Mäder hat kurz vor der Tour de France eine kollektive Wunde des Radsports wieder weit aufgerissen, dabei dreht man sich beim Thema Sicherheit offenbar nur allzu gern im Kreis.
«So wie ich es sehe, ist relativ wenig passiert. Gefühlt fahren wir immer noch mit demselben Standard rum wie zum Start meiner Karriere. Ich habe versucht, viel herbeizuführen, da ist aber relativ wenig bis gar nichts passiert», sagte der 38 Jahre alte Martin der Deutschen Presse-Agentur.
Die erste Woche der Tour ist ohnehin oft halsbrecherisch und von schweren Stürzen überschattet. Jeder Profi ist etwas motivierter, jedes Team drängt noch ein wenig mehr auf Erfolg. Ein Etappensieg beim größten Spektakel des Radsports kann ganze Karrieren prägen. Und wenn am Samstag im Baskenland der Startschuss fällt, dann heißt das in den ersten beiden Tagen vor allem: Viele kleine Straßen, steile und kurvenreiche Abfahrten - und jeder will vorn fahren. «Aber es können nicht alle vorn fahren. Deswegen nimmt das Feld so eine Eigendynamik an. Stürze werden wahrscheinlich nicht vermeidbar sein», sagte Ralph Denk, Chef des deutschen Top-Teams Bora-hansgrohe, der dpa.
Stürze als Dilemma des Radsports
Es ist ein Dilemma des Sports, für das es nur bedingt Lösungen gibt. Es ist durchaus Potenzial vorhanden, wie man Streckenabschnitte besser absichern oder Etappen besser planen kann. Das betrifft vor allem Ortsdurchfahrten, Verkehrsinseln, Kreisverkehre oder die Gestaltung des Finals einer Etappe. «Radsport ohne Stürze und schwere Verletzungen wird es nicht geben, aber man kann schon viele Gegenmaßnahmen unternehmen», sagte Martin. Einige kleinere Veränderungen hat es dort in den vergangenen Jahren bereits gegeben.
Doch es musste immer erst etwas passieren. So werden seit dem lebensgefährlichen Sturz des Niederländers Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt 2020 spezielle Banden in den Sprintfinals aufgestellt, statt einfacher Absperrgitter. Der Tod von Mäder, der vor anderthalb Wochen bei der Tour de Suisse in der Abfahrt vom Albulapass verunglückte, wäre wohl kaum zu verhindern gewesen. «Das zu sichern auf einem Standard, wie es zum Beispiel im Skirennsport in Kitzbühel mit dreifachen Fangnetzen der Fall ist, ist nicht möglich», meinte Denk. Doch genau das wird gerade diskutiert. So sollen in Abfahrten zumindest bestimmte Abschnitte künftig durch Fangnetze gesichert werden. Es ist alles - wie sollte es anders sein - eine Frage des Geldes.
Alter Martin-Weggefährte als Schnittstelle
Die Schnittstelle zwischen Fahrern und Veranstaltern sowie dem Weltverband UCI ist dabei ein alter Weggefährte von Tony Martin. Adam Hansen ist Präsident der Fahrer-Gewerkschaft CPA. Am Mittwoch wird er sich mit der UCI, den Teams und dem Tour-Veranstalter ASO zusammensetzen. Ein Thema: Sicherheit. «Wir wollen besprechen, was wir bei den Zielankünften nach Abfahrten machen können», sagte Hansen dem «Guardian». Bei einer so angelegten Etappen kam Mäder ums Leben. Bei der Tour wird es im Hochgebirge zwei Teilstücke geben, auf denen nach dem letzten Pass noch eine Abfahrt folgt.
Ein anderes Argument als Spektakel gibt es für eine solche Streckenplanung selten. Es wird offenbar spekuliert, dass am Berg abgehängte Fahrer in der Abfahrt ein zusätzliches Risiko eingehen, um Zeit aufzuholen. Ralph Denk ist das allerdings etwas zu einfach argumentiert: «Wenn noch ein Berg kommt, wird die Abfahrt genauso runtergehämmert.» Laut Hansen sei die ASO sehr offen für Sicherheitsaspekte. Dass Tour-Etappen kurzfristig noch geändert werden, ist allerdings sehr unwahrscheinlich.
Hansen sieht noch einen anderen Ansatz zur Verbesserung der Sicherheit: die Erziehung der Fahrer. «Vielleicht brauchen wir eine bessere Ausbildung für die Fahrer», sagte der 42-Jährige. Die Profis müssten «sehr gut über die Risiken informiert sein». Ein Hintergrund ist, dass die Räder aufgrund der technischen Entwicklungen immer schneller werden. Dreistellige Geschwindigkeiten sind für Profis in einer alpinen Abfahrt heutzutage nichts Besonderes mehr. «Es ist bedeutend gefährlicher geworden», sagte Hansen.
Was - so makaber das klingen mag - für einen Profi dazugehört, ist, einfach den Kopf auszuschalten «Das ist schon immer präsent, dass etwas passieren kann», sagte der deutsche Meister Emanuel Buchmann. «Ich denke, das muss man ein Stück weit ausblenden. Sonst kann man den Sport nicht auf Dauer machen.»