«Bleiben oder fliehen?» - Moskauer in Sorge
Auf den ersten Blick wirkt Moskau beinahe unwirklich normal. Selbst in den Stunden, in denen Söldnerchef Jewgeni Prigoschin mit dem Marsch auf die Hauptstadt droht, flanieren die Menschen durch den Alexandergarten am Kreml, mit Kaffee in der Hand und Hund an der Leine. Die Sonne scheint. Die Luft ist ein wenig schwül. Aus Lautsprechern dudelt Volksmusik. Zu diesem Zeitpunkt am Samstagabend haben Prigoschins Kämpfer die Hälfte des Wegs aus Rostow am Don in die Hauptstadt schon hinter sich.
Offiziell ist Moskau auch am Sonntag noch im Notfall-Modus und bleibt es auch – selbst, nachdem Prigoschin den Marsch auf Moskau am Abend überraschend für beendet erklärt. Der Anti-Terror-Notstand für die Metropole mit mehr als 13 Millionen Einwohnern samt Umland gilt weiter. Staatliche Einrichtungen stehen unter besonderem Schutz. Am Autobahnring wurde zwischenzeitlich eilig ein Kontrollpunkt eingerichtet – ein Video zeigt Soldaten, einen Schützenpanzer und Sandsäcke. Der Verkehr zwischen Moskau und Rostow bleibt auch am Sonntag eingeschränkt.
Auch in Kremlnähe sind durchaus Veränderungen wahrnehmbar, wenn man nur etwas genauer hinschaut. Zwar ist von den Panzern, die hier noch in der Nacht zum Samstag durch die Straßen rollten, nichts mehr zu sehen. Doch vor der Staatsduma patrouillieren mehr schwer bewaffnete und vermummte Soldaten als sonst. Überall Absperrgitter. Und nicht zuletzt: Der Rote Platz ist für Besucher gesperrt – und bleibt es auch, nachdem der Prigoschin-Spuk offiziell schon wieder vorbei ist.
«Jetzt sind wir extra hergekommen», seufzt eine Frau am Samstag, als die Gefahrenlage noch nicht gebannt ist. Sie steht mit einer Touristengruppe vor dem verschlossenen Eingang zu dem weltberühmten Platz, auf dem sich die Basilius-Kathedrale und das Lenin-Mausoleum befinden.
Auch ein Ehepaar mit kleinem Sohn ist enttäuscht. Die drei kommen aus Rostow – ausgerechnet der Stadt 1000 Kilometer im Süden, in der Prigoschins Männer ihren Aufstand begonnen haben. Seine kleine Familie sei gerade noch rechtzeitig am Freitag in den Urlaub aufgebrochen, sagt der Mann. Dann lacht er kurz: «Was für ein Glück.» Ob er Angst habe vor der Rückkehr in einigen Wochen? Nicht besonders, antwortet er. «Bis dahin ist hoffentlich alles wieder ruhiger.»
Nicht alle sind optimistisch
So optimistisch sind hier allerdings nicht alle. An einem Eisstand neben der Polizeiabsperrung tuscheln drei Verkäuferinnen in dunkelroten Kitteln aufgeregt miteinander. Einmal ist «Schoigu» zu hören – der Nachname des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, von Prigoschin zu einer Art Erzfeind erklärt.
Als sich Kundschaft nähert, verstummen die Frauen sofort. Auf die Frage, wie sie die Lage bewerten, antworten sie wortkarg und mit misstrauischem Blick. «Es ist schrecklich», sagt eine. Sie wisse nicht, was sie glauben solle, schließlich lese man ja so vieles in den sozialen Netzwerken. Während sie das Rückgeld heraussucht, fügt die Verkäuferin hinzu: «Ich weiß nicht, was tun: bleiben oder fliehen?»
Besonders junge Moskauer, die kritische und ausländische Medien konsumieren, sind aufgewühlt in diesen Stunden der Ungewissheit. «Ich habe Angst, dass der Krieg letztendlich bis zu uns kommt», schreibt eine 26-Jährige in einem privaten Chat mit Blick auf den Angriffskrieg, den Russland bereits seit 16 Monaten gegen die Ukraine führt.
Eine andere junge Frau erklärt, sie fürchte, dass nun möglicherweise der Kriegszustand verhängt werden könnte. Sie unterstütze weder die Wagner-Kämpfer noch die reguläre Armee – doch im Falle eines Bürgerkriegs hoffe sie klar auf eine Niederlage von Kremlchef Wladimir Putin.
Ein 21 Jahre alter Student wiederum schreibt: «Manch einer spricht von einem beginnenden Bürgerkrieg in Russland. Ich denke aber, dass der wirkliche Bürgerkrieg nicht auf den Straßen stattfindet, sondern in den Köpfen. Entweder verzichten wir bewusst darauf, ein Imperium zu sein – oder nicht. Und wenn nicht, dann wird uns auch ein militärischer Umsturz nicht helfen.»