«Bleiben oder fliehen?» - Moskauer in Sorge
Auf den ersten Blick wirkt das Moskauer Stadtzentrum am Samstag beinahe unwirklich normal. Während der aufständische Söldnerchef Jewgeni Prigoschin mit dem Vormarsch auf die russische Hauptstadt droht, flanieren die Menschen dort mit Kaffee in der Hand und Hund an der Leine durch den Alexandergarten, direkt an der Kremlmauer.
Die Sonne scheint, die Luft ist ein wenig schwül und aus den Lautsprechern eines nahe gelegenen Einkaufszentrums dudelt Volksmusik. Zu diesem Zeitpunkt haben Prigoschins Kämpfer bereits die Hälfte des Wegs vom südlichen Rostow am Don aus zurückgelegt – diese Millionenstadt hatten sie am Morgen besetzt.
Offiziell aber ist Moskau im Notfall-Modus – auch, nachdem Prigoschin am Abend überraschend das Ende seines Vormarsches erklärte. Der Anti-Terror-Notstand, den die Behörden für die Metropole mit ihren mehr als 13 Millionen Einwohnern sowie für das Umland ausgerufen haben, gilt zunächst weiter. Staatliche Einrichtungen stehen unter besonderem Schutz. An einem Abschnitt des Moskauer Autobahnrings ist ein Kontrollpunkt eingerichtet worden – ein Video davon zeigt Soldaten, einen Schützenpanzer und Sandsäcke.
Veränderungen wahrnehmbar, wenn man genauer hinschaut
Und auch in Kreml-Nähe sind durchaus Veränderungen wahrnehmbar, wenn man nur etwas genauer hinschaut. Zwar ist von den Panzern, die hier noch in der Nacht zuvor durch die Straßen rollten, nichts mehr zu sehen. Doch vor der Staatsduma patrouillieren mehr schwer bewaffnete und vermummte Soldaten als sonst. Überall stehen Absperrgitter bereit. Und nicht zuletzt: Der Rote Platz ist kurzfristig für Besucher gesperrt worden. «Jetzt sind wir extra hergekommen», seufzt eine Frau, die mit einer Touristengruppe vor dem verschlossenen Eingang zu dem weltberühmten Platz steht, auf dem sich unter anderem die Basilius-Kathedrale und das Lenin-Mausoleum befinden.
Auch ein Ehepaar, das mit dem kleinen Sohn gekommen ist, ist enttäuscht. Sie kommen aus Rostow, erzählt der Mann – ausgerechnet der Stadt, in der Prigoschins Männer ihren Aufstand begonnen haben und aus der zahlreiche Menschen in den Stunden danach fliehen wollten. Seine kleine Familie sei gerade noch rechtzeitig am Freitag in den Urlaub aufgebrochen, sagt der Mann und lacht kurz: «Was für ein Glück.» Ob er Angst habe vor der Rückkehr in einigen Wochen? Nicht besonders, antwortet er. «Bis dahin ist hoffentlich alles wieder ruhiger.»
So optimistisch sind hier allerdings nicht alle. An einem Eisstand direkt neben der Polizeiabsperrung tuscheln drei Verkäuferinnen in dunkelroten Kitteln aufgeregt miteinander, einmal ist «Schoigu» zu hören – der Nachname des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu, der von Prigoschin zu einer Art Erzfeind erklärt wurde.
Wortkarg und misstrauisch
Als sich Kundschaft nähert, verstummen die Frauen sofort. Auf die Frage, wie sie die Lage bewerten, antworten sie nur wortkarg und mit misstrauischem Blick. «Es ist schrecklich», sagt eine. Sie wisse nicht, was sie glauben solle, schließlich lese man ja so vieles in den sozialen Netzwerken. Und in der Tat: Die Lage ist in vieler Hinsicht extrem unübersichtlich. Während sie das Rückgeld für eine kleine Flasche gekühltes Wasser heraussucht, fügt die Verkäuferin hinzu: «Ich weiß nicht, was zu tun ist: bleiben oder fliehen?»
Besonders junge Moskauer, die kritische und ausländische Medien konsumieren, sind aufgewühlt an diesem Wochenende, an dem ein Sturm auf Moskau drohte. «Ich habe Angst, dass der Krieg letztendlich bis zu uns kommt», schreibt eine 26-Jährige in einem privaten Chat mit Blick auf den Angriffskrieg, den Russland bereits seit 16 Monaten gegen die Ukraine führt.
Sorge vor offiziellem Kriegszustand in Russland
Eine andere junge Frau erklärt, sie fürchte, dass nun möglicherweise auch in Russland offiziell der Kriegszustand verhängt werden könnte. Sie unterstütze weder die Wagner-Kämpfer noch die reguläre russische Armee, doch im Falle eines Bürgerkriegs hoffe sie klar auf eine Niederlage von Kremlchef Wladimir Putin, fügt sie hinzu.
Ein 21 Jahre alter Student wiederum schreibt: «Manch einer spricht von einem beginnenden Bürgerkrieg in Russland. Ich denke aber, dass der wirkliche Bürgerkrieg nicht auf den Straßen stattfindet, sondern in den Köpfen der Menschen. Entweder verzichten wir bewusst darauf, ein Imperium zu sein – oder nicht. Und wenn nicht, dann wird uns auch ein militärischer Umsturz nicht helfen.»