Antisemitismus im Alltag knapp 2500 mal erfasst
Als der Mann mit der Kippa im Café bezahlen will, sagt die Bedienung über seinen Kopf hinweg: «Ja, dass er Geld hat, sieht man schon an der Mütze, die haben immer genug Geld.»
Kippa ist gleich Jude, Jude ist gleich Geld ist gleich Anlass für einen abfälligen Kommentar: Alltag in Deutschland - so zeigt es der am Dienstag vorgestellte Jahresbericht des Netzwerks Rias zu antisemitischen Vorfällen 2022.
Insgesamt weniger Vorfälle
Die Zahl der erfassten Fälle ist insgesamt zurückgegangen - von 2738 im Jahr 2021 auf 2480 im vergangenen Jahr. Das seien aber immer noch sieben pro Tag, sagte Bianca Loy, wissenschaftliche Referentin bei Rias, dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus. Dieser unterhält Meldestellen in elf Bundesländern und stellt sie regelmäßig in Jahresberichten zusammen. Antisemitismus habe «einen alltagsprägenden Charakter für Betroffene», sagte Loy.
Dass weniger Fälle erfasst wurden als 2021, liege daran, dass es weniger «Gelegenheitsstrukturen» gegeben habe, erläuterte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Gemeint ist damit:
Während der Corona-Pandemie wurden bei Demonstrationen zum Beispiel Gelbe Sterne gezeigt, mit denen sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Opfer inszenierten und quasi mit verfolgten Juden auf eine Stufe stellten. Mit dem Ende der Beschränkungen wurden es weniger Demos, damit fehlte die Bühne für solche antisemitischen Inszenierungen.
Dasselbe gilt für Proteste zum israelisch-arabischen Konflikt, die teils Anlass für antisemitische Parolen sind und 2022 seltener waren. «Das Fehlen genau dieser Strukturen macht antisemitisch denkende Menschen aber nicht antisemitismuskritisch, im Gegenteil: Sie finden neue Gelegenheiten für ihren Judenhass», sagte Klein. 2022 waren das laut Rias zum Beispiel Demos zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, mit denen elf Prozent der antisemitischen Vorfälle in Zusammenhang standen.
Vorfall bei documenta
Klein wies auch auf den Kulturbetrieb und nannte nicht nur den Streit über die documenta fifteen und um die Konzerte des Rockmusikers Roger Waters. 2022 seien 170 antisemitische Vorfälle in Kultur- und Bildungseinrichtungen gemeldet worden, 70 mehr als ein Jahr zuvor.
«Die documenta ist damit bei weitem nicht das einzige Kulturevent, bei dem unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit gegen Juden gehetzt und judenfeindliche Vorurteile verbreitet werden», sagte Klein. Die meisten Vorfälle hätten nicht so viel Aufmerksamkeit. «Wie in so vielen Teilen des gesellschaftlichen Lebens gehören sie gerade für Jüdinnen und Juden praktisch zum Alltag.»
Trauriger Rekord
Alarmiert zeigte sich Rias-Expertin Loy von den neun für 2022 dokumentierten Fällen «extremer Gewalt» gegen Juden, also potenziell tödliche oder schwere Gewalttaten. «Dies ist die höchste Anzahl solcher Fälle seit Beginn der bundesweiten Erfassung in 2017.» Dazu zählte Rias die Schüsse auf das ehemalige Rabbinerhaus in Essen, einen Brandanschlag in Bochum und einen vereitelten Anschlag auf die Synagoge in Dortmund.
Der Bundesgerichtshof habe bestätigt, dass diese drei Fälle in Zusammenarbeit mit den iranischen Revolutionsgarden von einem Verdächtigen im Iran koordiniert worden seien, sagte Rias-Vorstand Benjamin Steinitz. Der Generalbundesanwalt gehe von einer antisemitischen Motivlage aus. Steinitz forderte die Bundesregierung auf, gegen den «staatlich koordinierten Terrorismus des Iran» anzugehen.
Die Vorwürfe zeigen, dass die Täter hinter antisemitischen Vorfällen sehr unterschiedlich sein können. Mehr als die Hälfte der erfassten Vorfälle - 53 Prozent - seien keinem politischen Hintergrund klar zuzuordnen, hielt Rias fest. 13 Prozent hätten einen rechtsextremen Hintergrund.
Jeder fünfte Vorfall habe einen verschwörungsideologischen Hintergrund. Dieses Spektrum sei teilweise, aber nicht nur rechtsextrem und speise auch das Wählerpotenzial der AfD, sagte Steinitz.
Klein lobte die Dokumentationsarbeit von Rias und setzte sich dafür ein, dass das Netzwerk und seine Meldestellen dauerhaft finanziert werden. Nach Angaben von Steinitz drohen Kürzungen in mehreren Bundesländern.